Wo ein Schnurrbart kein männliches Attribut und Zahnlosigkeit kein Altersmerkmal ist: ein Ausflug nach Südamerika, zum Südlichen Tamandua und zum Kaiserschnurrbart-Tamarin. Obschon es sich um kleine Tierchen handelt, bilden staatenbildenden Ameisen und Termiten doch ein sich punktuell in grösserer Konzentration anbietendes Nahrungsangebot. Es zu nutzen, bedarf aber gewisser Werkzeuge. Entsprechend ausgerüstete Nutzer dieses Angebots sind etwa die Ameisenbären.
Lange Schnauze, langer Greifschwanz
Systematisch haben die Ameisenbären mit Bären nichts zu tun. Sie gehören in die Ordnung der Nebengelenktiere, die weiter eine illustre Schar südamerikanischer Säugetiere wie Faultiere und Gürteltiere vereinigt. Es werden drei «Grössen» von Ameisenbären unterschieden: der Grosse Ameisenbär, der Tamandua oder Kleine Ameisenbär und der Zwergameisenbär. Ihre lateinischen Artbezeichnungen nehmen Bezug auf die Anzahl krallenbewehrter Finger an den Vorderextremitäten: tridactyla (Grosser Ameisenbär, drei Finger), tetradactyla (Südlicher Tamandua, vier Finger) und didactyla (Zwergameisenbär, zwei Finger; früher eine Art mit sieben Unterarten, heute sieben eigenständige Arten).
Der Südliche Tamandua hat seine Verbreitung im nördlichen und zentralen Südamerika. In seinen Lebensraumansprüchen ist er recht flexibel, bewohnt er doch nebst Regen-, Trocken- und Mangrovenwäldern auch offenere Flächen wie Baumsavannen oder Kulturland. Sowohl tags wie auch nachts ist er am Boden und auf Bäumen unterwegs auf Nahrungssuche. Mit seinen kräftigen Vorderextremitäten und den starken Krallen vermag er Termitenbauten zu öffnen, mit seiner langen feinen Zunge holt er die Insekten aus ihren Bauten. Bis zu 450 Gramm Ameisen wurden in Mägen von Tamanduas gefunden. Seine Beutetiere zerkaut er nicht – er hat keine Zähne –, er zerreibt sie. Der Tamandua klettert ausgezeichnet, unterstützt von seinem Greifschwanz. Seine Ruheplätze liegen denn auch bevorzugt in Baumhöhlen.
Der Tamandua ist als Einzelgänger unterwegs und markiert sein Territorium mit einem streng riechenden Drüsensekret. Dessen Geruch hat den Tieren den Übernahmen «Stinkers of the forest» eingetragen. Das Weibchen bringt jeweils nach einer Tragzeit von fünf Monaten ein einzelnes Junges zur Welt und trägt es anfänglich auf dem Rücken mit sich herum.
Der erste Tamandua, ein Männchen, kam 2007 in den Zoo Zürich. Das Tier verstarb 2009. Als nächstes erhielt der Zoo über das Europäische Erhaltungszuchtprogramm EEP ein Pärchen. Es hatte mehrfach Nachwuchs, die Jungtiere überlebten aber alle nicht. 2014 kam Lorenzo als neues Männchen nach Zürich. Mit seiner Partnerin zeugte er ein Junges, das ebenfalls nicht überlebte. Lorenzos Partnerin verstarb 2015 rund 15-jährig.
Lorenzo wird vorerst der letzte Tamandua in Zürich bleiben. Für eine längerfristige Haltung der Art wären Umstellungen im Tierbestand nötig, um für eine optimierte Haltung mehr Raum zur Verfügung stellen zu können. Der Versuch, Lorenzo mit den Goldgelben Löwenäffchen zu vergesellschaften, scheiterte – nicht am friedfertigen Lorenzo, sondern am Zuchtmännchen der Löwenäffchen, das offenbar ein erhöhtes «Sicherheitsbedürfnis» hatte und Lorenzo auf seinen Ausflügen attackierte.
Lorenzo wurde im Juni 1999 in Dortmund geboren. Er ist – hier schliesst sich der Kreis – der Vater des ersten Tamanduas in Zürich. Als durchschnittliche Lebenserwartungen für Tamanduas werden 7.6 Jahre angegeben. Mit seinen 18.5 Lebensjahren sprengt Lorenzo diesen Rahmen bei Weitem. In der Alterspyramide für seine Art finden sich in den Zoos weltweit nur noch 2 Männchen (von insgesamt 43), die älter sind als er.
Der Erstbeschreiber des Kaiserschnurrbart-Tamarins war vor 110 Jahren der in der Ostschweiz geborene Naturforscher Emil Goeldi. Er war als Forschungsreisender vor allem in Brasilien unterwegs. Ihm lag ein falsch präpariertes Museumsexemplar vor: der Präparator hatte den Schnurrbart des Tieres fälschlicherweise nach aussen und oben gezwirbelt – ganz in der Art, wie es für den Schnurrbart des deutschen Kaisers Wilhelm II. typisch war.
Kaiserschnurrbart-Tamarine gehören zu den Krallenaffen und sind Bewohner der Regenwälder des oberen Amazonasbeckens. In Gruppen von zwei bis zehn Tieren streifen sie in der unteren und mittleren Kronenschicht in ihren rund dreissig Hektar messenden Wohngebieten umher. Ihre Nahrung besteht aus Früchten, Knospen, Blüten, Baumsäften, Wirbellosen und kleinen Wirbeltieren.
In der Gruppe, die mehrere erwachsene Männchen umfassen kann, reproduziert in aller Regel nur ein Weibchen. Es bringt nach einer Tragzeit von rund 150 Tagen meist Zwillinge zur Welt, die zweieiig sind. Die Jungen sind bei der Geburt recht gross und können zusammen 15 bis 20 Prozent des Körpergewichts der Mutter ausmachen.
Bei der Aufzucht helfen das oder die Männchen sowie ältere Jungtiere mit, indem sie die Jüngsten von der Mutter übernehmen und herumtragen und nur zum Säugen der Mutter zurückbringen. Ab einem gewissen Alter versorgen sie sie auch mit fester Nahrung. Die Jungen krallen sich im Fell der «Tragtiere» fest und halten sich dort ohne Unterstützung auch bei Sprüngen und schneller Fortbewegung.
Der Zoo Zürich startete 1989 mit der Haltung von Kaiserschnurrbart-Tamarinen, mit einem aus Melbourne importierten Paar. Seither kamen hier 53 Junge zur Welt, 24-mal Zwillinge, 5-mal Einlinge. Nachzuchttiere wurden unter anderem an Zoos in Australien und Südafrika abgegeben.
Gruppendynamische Prozesse
Aber nicht alle Jungtiere konnten erfolgreich aufgezogen werden. Eine Reihe von Ausfällen konnte nach minutiösen Abklärungen auf einen Parasiten zurückgeführt werden. Eine erhöhte Jungensterblichkeit setzte ab 2014 ein, verbunden mit gruppendynamischen Prozessen. 2015 umfasste die Gruppe zehn Tiere, sechs Männchen und vier Weibchen. Die Spannungen in der Gruppe nahmen zu, auch brachte erstmals ein zweites Weibchen Junge zur Welt. Das ursprüngliche Zuchtmännchen starb 2016. In der Folge zerfiel die Gruppe zusehends; ein Vorgang, der beim Erreichen einer gewissen Gruppengrösse nicht überrascht. Ein Tier nach dem anderen wurde aus der Gruppe gemobbt und musste herausgenommen werden.
Was heute von der Gruppe übriggeblieben ist, sind das mit 13 Jahren schon recht alte Zuchtweibchen (ihre ersten Jungen kamen per Kaiserschnitt zur Welt) und ein 4-jähriger Sohn. Zwei herausgemobbte Tiere warten noch im Hintergrund auf ihre Weitergabe. Die Gruppe der Kaiserschnurrbart-Tamarine steht somit vor einem Neuanfang.
In der gegenüberliegenden Anlage der Goldgelben Löwenäffchen hat die Gruppe mit zehn Tieren ebenfalls eine kritische Grösse erreicht. Das Zuchtweibchen ist zudem wieder trächtig. Auch hier würden gruppendynamische Prozesse nicht überraschen, die die Entnahme des einen oder anderen Tieres nötig machen könnten.
Viele Krallenaffenarten haben von Natur aus ein kleines Verbreitungsgebiet. Die Zerstörung ihrer Lebensräume durch Rodungen bringt diese Arten schnell in grosse Bedrängnis. Für die Kaiserschnurrbart-Tamarine wird der Bestand in der Roten Liste der IUCN derzeit als nicht gefährdet eingestuft. Für das Goldgelbe Löwenäffchen lautet die Beurteilung stark gefährdet. (pd./Foto: zvg.)