«Der Verkehr soll rollen» – aber tut er dies mit Tempo 30? Und sinkt so der Lärm? Über diese konfliktträchtigen Themen diskutierten Stadtrat Michael Baumer und fünf Stadtratskandidierende verschiedener Parteien.
In Zürich soll ein hartes Tempo-30-Regime eingeführt werden. Die Meinungen dazu gehen auseinander. Das zeigte sich auch beim Podium «Der Verkehr soll rollen», zu dem die Mitte und die FDP am Montag im «machTheater» in Oerlikon eingeladen hatten. An der Diskussionsrunde nahmen nebst FDP-Stadtrat Michael Baumer auch die Stadtratskandidierenden Simone Brander (SP), Stephan Iten (SVP), SonjaRueff-Frenkel (FDP), Dominik Waser (GP) und Jodef Widler (Die Mitte) teil.
Nach einem Grusswort von Regierungsrätin Silvia Steiner (Die Mitte), welches der Problematik Coronamassnahmen in der Schule gewidmet war, leitete TeleZüri-Moderatorin Vanessa Meier die Diskussion ein. Professionell und souverän sorgte Meier dafür, dass alle Beteiligten gleichermassen zu Wort kamen. Lärm, Luftverschmutzung, Velowege, riesige Baustellen und die Stadt, die Auflagen zum Lärmschutz umsetzen muss – das alles sorgt immer wieder für Schlagzeilen. Die einen wollen verhindern, dass der Verkehr ausgebremst wird, andererseits hat die Stadt nach erfolgreicher Abstimmung Tempo 30 grossflächig beschlossen. Wie wird sich also die Zürcher Bevölkerung künftig in der Stadt Zürich fortbewegen?
«Wir haben Lärmschutzvorschriften vom Bund», so Stadtrat Michael Baumer. «Lärm muss an der Quelle saniert werden. Dazu gibt es verschiedene Massnahmen, Tempo 30 ist eine davon.» Daneben sei ein attraktiver öffentlicher Verkehr wichtig, betonte der Vorsteher der Industriellen Betriebe der Stadt Zürich. «Der Stadtrat hat in der laufenden Legislatur um Lösungen gerungen. Man musste einen Kompromiss suchen, und den haben wir mit dem vorliegenden Plan gefunden.»
Doch wie gefährlich ist der Lärm für die Gesundheit der Zürcherinnen und Zürcher? «Lärm ist nicht lebensgefährlich, aber er ist eine Beeinträchtigung des Allgemeinbefindens», sagte der Arzt Josef Widler. «Wir wollen Wirtschaftsmetropole sein, verdichten, aber leben wie auf dem Land. Das geht nicht. Ich finde es wichtig, dass es Orte gibt, zum Beispiel Wohnzonen, in denen es ruhig ist. Man sollte den Lärm entflechten.»
«Über 100 000 Menschen in Zürich leiden unter übermässigem Lärm», betonte Simone Brander. «Tempo 30 ist eine von verschiedenen Massnahmen, den Lärm zu senken. Und es ist eine kostengünstige Massnahme.» «Wir sind eine Gross- und eine Wirtschaftsstadt», hielt Stephan Iten entgegen. «Vom Wohlstand profitieren wir alle. In einer Stadt gibt es verschiedene Lärmquellen. Auch das Tram macht Lärm. Es gäbe andere Lärmschutzmassnahmen, zum Beispiel Lärmschutzwände und -fenster. Aber die rot-grüne Stadtregierung baut lieber Spuren ab, um die Autofahrer zu schikanieren.»
Das Auto habe keine Daseinsberechtigung mehr in der Stadt, es sei nicht mehr zeitgemäss, ist Dominik Waser überzeugt: «Man muss möglichst schnell etwas unternehmen.» Aber Sonja Rueff-Frenkel betont, dass in der grössten Stadt der Schweiz Lärm nicht zu verhindern ist. «Alles muss beliefert werden», sagte sie. «Wir müssen die Wirtschaft am Laufen halten. Wenn man in einer Stadt lebt, die florieren soll, muss man mit gewissem Lärm leben. Handwerker brauchen das Auto, ältere Menschen auch, und bei schlechtem Wetter sind nicht mehr viele Menschen mit dem Velo unterwegs.»
Michael Baumer ist von der Zukunft des ÖV überzeugt. «Zürich ist führend im Bereich ÖV», betont er. «Zumindest vor Corona hat fast die Hälfte der Bevölkerung den ÖV genutzt. Man hat sich schon früh bemüht, dass Trams auf eigenen Trassees fahren können.»
Gemäss Dominik Waser darf der ÖV keinesfalls weniger attraktiv werden: «Man muss ihn ausbauen.» Dass man das Auto brauche für Transporte, für KMU oder ältere Menschen, sei auch ihm bewusst, aber nicht für private Freizeitfahrten. Für Josef Widler ist Tempo 30 für den MIV keine gute Lösung: «Tempo 30 macht, dass man nicht so schnell vorwärtskommt. Auch der ÖV wird dadurch langsamer. Also bevorzugen die Leute die schnellere Variante und nehmen das Auto. Nicht alle Leute wollen Velo fahren.»
«Niemand fährt freiwillig Auto in der Stadt», ist Sonja Rueff-Frenkel überzeugt. «Und denen, die nicht zwingend fahren müssen, soll man die Freiheit lassen. Die Stadt soll für jeden attraktiv sein.» «Flächendeckendes Tempo 30 ist kein Kompromiss», doppelt Stephan Iten nach. «Welche Berechtigung hat ein ÖV-Fahrender mehr als ein Handwerker, der seine Arbeit verrichten muss? Man soll den Verkehr auf den Durchfahrtstrassen flüssig halten, sonst wird er in die Quartierstrassen gedrängt.» Wenn man sehe, dass der Verkehr in die Quartiere ausweiche, werde man sofort Massnahmen ergreifen», entgegnete Simone Brander.
Auch Baumer sieht nicht nur Vorteile beim flächendeckenden Tempo 30. «Wenn der Verkehr langsamer wird, braucht es mehr Busse und mehr Fahrer, und das bedeutet höhere Kosten.» Vorgesehen sei, auf gewissen Strassen nur nachts Tempo 30 einzuführen, um den Durchfahrtsverkehr tagsüber am Laufen zu halten.
Josef Widler ist überzeugt, dass die Lärmspitzen zu Zeiten stattfinden, an denen die Leute nicht zu Hause am Schlafen, sondern selber unterwegs sind. «Es wäre effizienter, Tempo 30 nur nachts einzuführen, wenn die Leute Ruhe brauchen.»
Das sei auch für gewisse Strecken vorgesehen, so Simone Brander. «Es braucht dringend eigene Trassees für den ÖV. Es gibt eine neue Arbeitsgruppe, die nach Massnahmen sucht, um den ÖV zu priorisieren. Man sollte auch tagsüber die Grenzwerte einhalten.»
Sonja Rueff-Frenkel ist überzeugt, dass es eine einheitliche Regelung braucht. «Es ist verwirrend, wenn überall andere Tempi vorgeschrieben sind.» Was den ÖV betrifft, wäre noch viel zu tun. Aber das kostet Geld. Als Beispiele nennt Michael Baumer das Tram Affoltern oder die unglückliche Situation im Bereich Bellevue–Bürkliplatz, wo die Trams sich selber ausbremsen. «Wir haben durch Corona grosse Einbussen erlitten», sagt er. «Und die Lärmsanierung kostet auch 15 Millionen – Geld, das dann fehlt.» «Die durch Autos verursachten Staus kosten auch Geld», so Simone Brander, und sie ist überzeugt, dass die Zusatzkosten durch Tempo 30 kompensiert werden können. «Durch Tempo 30 für Autos werden auch die Trams ausgebremst», sagt Stephan Iten. «Wenn der Bus zum Beispiel in Seebach wegen Tempo 30 langsamer unterwegs ist, kostet das Geld. Und auch das Gewerbe hat finanzielle Verluste durch langsames Fahren und den dadurch entstandenen Zeitverlust.»
Eines sind sich alle einig – der Raum in Zürich ist knapp. «Nur 15 bis 20 Prozent der Autos sind für das Gewerbe und den Güterverkehr unterwegs», so Simone Brander. «Und diese sollte man vom fossilen Treibstoff wegbringen. Alle anderen Autos sollte man wegbekommen. Wir haben ein Platzproblem.» «Den beschränkten Strassenraum muss man für den ÖV nutzen, nicht für Parkplätze, auf denen Private ihre Autos abstellen», doppelte Dominik Waser nach.
Von der Idee, die Kosten für ein Auto zu erhöhen, hält Josef Widler gar nichts. «Wer soll dann noch ein Auto haben können? Nur noch die Reichen?» Auch Sonja Rueff-Frenkel kann sich das nicht vorstellen: «Es geht nicht, dass sich nur noch wenige Menschen ein Auto leisten können. Und Autos, die parkiert sind, verursachen ja keinen Stau.»
Zum Schluss durften alle Beteiligten ihre Wünsche für die Zukunft äussern. Dominik Waser möchte die Stadt aus Platzgründen so umbauen, dass das ÖV-Angebot so gut wird, dass es kein Auto mehr braucht. Der Traum von Stephan Iten ist es, dass jedes Verkehrsmittel seine Berechtigung hat und der Strassenraum gerecht aufgeteilt wird. Simone Brander hofft, dass es künftig einen fossilfreien Verkehr, einen zuverlässigen ÖV und sichere Velorouten und Fusswege geben wird. Sonja Rueff-Frenkel wünscht sich einen Verkehr, der fliesst. «Jedes Verkehrsmittel hat seine Daseinsberechtigung. Ich hoffe aber, dass der Verkehr je länger, je mehr fossilfrei wird.» Das Idealbild von Michael Baumer ist und bleibt der ÖV. «Er soll pünktlich sein und es muss ein dichtes Netz geben. Man muss dort ausbauen, wo es nötig ist. Tramringe über die Aussenquartiere sind zukunftsweisend.» Auch Josef Widler wünscht sich, dass es immer weniger fossilbetriebene Autos gibt. «Und man muss Möglichkeiten schaffen, die Autos irgendwo unterzubringen. Parkplatz ist schliesslich nicht gleich Parkplatz. Es gibt nötige Parkplätze für das Kurzzeitparkieren und Parkplätze, auf den man das Auto stehen lassen kann. Und die muss man schaffen, wenn immer möglich nicht auf der Strasse.