Die Hottinger Autorin und Schauspielerin Shelley Kästner versammelt in ihrem neuen Buch jüdische Biografien aus fast einem Jahrhundert Zeitgeschichte. Sie zeigt darin auf: Ein eigentliches Judentum gibt es nicht.
Zapfenlocken und Perücken, grosse Hüte, komplizierte Speisegesetze und eine seltsame Sprache: Viele Menschen in Zürich verbinden mit dem Erscheinungsbild der streng orthodoxen jüdischen Gemeinschaft etwas Entrücktes, Weltabgewandtes, das ihre Fantasie befeuert. Doch es ist ein Irrtum anzunehmen, dass diese Menschen das eigentliche Judentum repräsentierten.
In der Filmkomödie «Wolkenbruch » spielt Shelley Kästner eine Nebenrolle als orthodoxe Jüdin, doch sie sagt: «Das ist eine Randgruppe. Das Judentum hat sehr viel mehr Gesichter und Ausprägungen.» In ihrem Buch «Jewish Roulette. Vom jüdischen Erzbischof bis zum atheistischen Orthodoxen» porträtiert die ausgebildete Neuropsychologin Frauen und Männer, die auf unterschiedlichste Weise dem Judentum zugerechnet werden, unter anderem auch solche, die nicht einmal wussten, dass sie jüdischen Familien entstammen. Wir haben die Autorin zum Gespräch getroffen.
Shelley Kästner, was hat es mit dem Titel Ihres Buchs, «Jewish Roulette», auf sich?
Wenn ich den Namen von berühmten Persönlichkeiten in eine Internet- Suchmaschine eingebe und schaue, ob diese jüdisch sind oder jüdische Verwandte haben: Das nenne ich «Jewish Roulette» spielen. Wussten Sie zum Beispiel, dass Marilyn Monroe in den 1950er-Jahren zum Judentum konvertierte? (Lacht.) Ich bin ein sehr interessierter, neugieriger Mensch. Und es gibt viel mehr Menschen, die einen Bezug zum Judentum haben, als man denken würde.
Warum ist das von Bedeutung?
Es geht mir darum, Vorurteile abzubauen und aufzuzeigen, dass keine klaren Grenzen gezogen werden können zwischen Christen und Juden, zwischen «Wir und die Anderen». Es gibt Juden, die gleichzeitig dem Christentum zugerechnet werden, und auch umgekehrt. Beide Religionen haben ihren Ursprung im Orient. Unabhängig davon, welcher Religion sie zugerechnet werden, pflegen viele Menschen heute christliche und auch jüdische Rituale oder sogar beides. Denken Sie nur an Weihnachten ...
Sind Sie religiös?
Nein. Ich bin Agnostikerin. Unsere Familie hat jüdische Wurzeln, aber sie praktiziert seit vielen Jahren keine religiösen Rituale mehr. Ich bin areligiös erzogen. Dennoch werde ich aufgrund meines Aussehens oft gefragt, woher ich komme. Ich antworte immer: Ich bin von hier.
Was reizt Sie dann am Judentum?
Es ist Teil unserer Familie, und es gibt immer noch diesen Aha-Effekt, wenn jemand sich als jüdisch entpuppt. Viele Menschen verbinden damit bestimmte dogmatische Vorstellungen, die ich zutiefst ablehne und die absolut nicht repräsentativ sind. Ich hinterfrage alles und möchte alles verstehen. Ich möchte vor allem aufzeigen, dass die Bandbreite dessen, was jüdisch bedeutet, riesig ist.
Wie sind Sie zu den Gesprächspartnern gekommen?
Einige Begegnungen ergaben sich aus meinem weitverzweigten familiären Umfeld, andere ergaben sich zufällig über verschiedene, auch berufliche Kontakte. Ich habe 16 Jahre lang recherchiert. Fast jedes Mal, wenn ich bei der Arbeit erzählte, dass ich an diesem Buch schreibe, erwähnte jemand eine Freundin oder einen Bekannten, die jüdisch sind oder einen jüdischen Bezug haben. Aber ich wusste auch, dass ich mit einem Holocaust-Überlebenden sprechen muss.
Warum ist das so wichtig?
Der Holocaust spielt im Leben jedes Juden bis heute eine Rolle: Das Wissen, dass man vor nicht allzu langer Zeit hätte umgebracht werden dürfen, verfolgt Menschen mit jüdischem Glauben oder Hintergrund über mehrere Generationen.
Sie haben als Schauspielerin in Michael Steiners Filmkomödie «Wolkenbruch», die zurzeit in den Kinos läuft, eine kleine Rolle als orthodoxe jüdische Mutter.
Ja. Dabei bin ich persönlich so weit weg von jeder Form von Orthodoxie. (Lacht.) Aber da gab es ein lehrreiches Erlebnis: Zu den Dreharbeiten erschien ich bereits verkleidet in Kostüm und mit Perücke. Das Team und die anderen Schauspieler lernten mich sozusagen als orthodoxe Jüdin kennen. Ich spürte aufgrund dessen eine gewisse Verunsicherung bei einigen Crew-Mitgliedern im Umgang mit mir. Nach Abschluss des Drehtages dann, als ich wieder in meine private Kleidung geschlüpft war und mich vom Team verabschiedete, platzte es aus einer der Mitarbeitenden heraus: «Oh, du bist ja eine ganz normale Frau!»