Mauern können auch verbinden: Entlang der Degenriedstrasse leiten sie Amphibien sicher vom Winterquartier zum Weiher.
Der Klosbach fliesst ein Stück weit entlang der Dolderbahn. Da und dort staut sich sein Wasser an Erdschollen oder Steinen. Links und rechts verläuft ein schmales Grasband. Ein unspektakuläres Stück Natur, doch Sonia Angelone sieht es mit anderen Augen. Angelone ist bei Grün Stadt Zürich für die Amphibien zuständig. Und für Amphibien sind Bäche und Bachbette wie Strassen. Sie verbinden Wälder und Gehölze, in denen die Tiere ihre Winterruhe verbringen, mit «Glunggen», Tümpeln und Weihern, in denen sie im Frühling für Nachwuchs sorgen. «Die Molche sind die mobilsten», sagt Angelone und blickt aus dem Fenster der Bahn auf den Bach. «Sie sind sehr gute Kletterer.» Bloss acht bis zehn Zentimeter lang werden die Tiere und legen auf ihren Wanderungen doch Distanzen von bis zu einem Kilometer zurück. Hohe Ansprüche an ihre Laichgewässer haben Molche nicht. Im Wald reicht ihnen schon eine gefüllte Reifenspur, in der Stadt ein Teichlein, wie es häufig in Gärten und bei Schulhäusern zu finden ist.
Angelone weiss von vielen Orten, wo Amphibien unterwegs sind, und von vielen mehr oder weniger geeigneten Gewässern. Die 43-Jährige arbeitet seit sieben Jahren im Bereich Naturschutz der Stadt. Davor studierte sie Biologie mit Schwerpunkt Zoologie, forschte in der Ökologie und schrieb eine Doktorarbeit über den Laubfrosch. Für Grün Stadt Zürich betreut Angelone Naturschutzgebiete, insbesondere Still- und Fliessgewässer, berät bei deren Unterhalt und Sanierung und führt ökologische Aufwertungen aus.
Intensiveren Kontakt mit der Bevölkerung hat Angelone jedes Jahr mit dem Beginn der nächtlichen Amphibienwanderung. Diese beginnt, wenn die Temperatur eine Zeit lang über null Grad Celsius bleibt. Als Erstes machen sich dann die Grasfrösche auf den Weg, gefolgt von Erdkröten und Bergmolchen. Ihre Beobachtungen melden die Einwohner Angelone per Telefon oder via E-Mail. Meist sind ihr die Örtlichkeiten bekannt und sie kann Auskunft geben über das Woher und Wohin der Amphibien und allenfalls getroffene Schutzmassnahmen. Ab und zu ist aber auch für Angelone eine Adresse neu. Dann sitzt sie aufs Velo und schaut sich die Sache genauer an.
«Um Welten besser»
Früher betrafen besonders viele Rückmeldungen die Degenriedstrasse. Diese führt vom Grandhotel Dolder zur Wirtschaft Degenried. Vor zehn Jahren lag hier ein Brennpunkt des Konflikts zwischen den Interessen von Menschen und denjenigen der Amphibien. Abends ab 19 Uhr, wenn die Tiere aufbrachen und sich auf den Weg machten zum Degenriedweiher, waren auf der Strasse dazwischen die Gäste unterwegs ins Restaurant, die meisten im Auto. Viele tote Amphibien waren die Folge. 2001 forderte SVP-Gemeinderat Arthur Bernet, dem Sterben mit «möglichst einfachen Mitteln abzuhelfen». Im März 2005 stellte die Stadt erstmals einen mobilen Zaun auf, anschliessend an die Sanierung des Degenriedweihers. 450 Tiere wurden damals über die Strasse getragen, 50 tote Tiere gezählt. Auch in den Folgejahren wurde der Zaun aufgestellt, doch mit der Zeit erwies sich die Aktion als zu aufwendig. 2011 sperrte die Stadt die Strasse während der Amphibienwanderung vollständig. Als Folge klagten die Pächter der Wirtschaft über Umsatzeinbussen.
Das ist lange her. Heute sind die Pächter zufrieden und die Zahl der wandernden Amphibien ist wieder auf über 2000 gestiegen. «Bei der letzten Zählung im vergangenen Jahr waren es rund 2300 Tiere», sagt Angelone nach einem Blick in ihre Unterlagen. Sie steht in der Nähe der Wirtschaft auf einem 40 Zentimeter hohen Mäuerchen. Es besteht aus speziellen Bordsteinen und gehört zu einem 495 Meter langen Amphibienleitsystem, das 2012 links und rechts der Degenriedstrasse in den Wald gelegt wurde. Die Steine halten die Amphibien ab, vor die Autos zu springen oder zu kriechen, und leiten sie stattdessen zu Durchgängen, die unter der Strasse durchführen. Seit dem Bau des Leitsystems sei die Situation «um Welten besser», sagt Sissi Kern, deren Familie die Wirtschaft Degenried führt. Die toten Tiere und die Sperrung der Strasse seien bei der Pachtübernahme 2011 eine Belastung gewesen für den Betrieb und die Gäste. Das Leitsystem habe das Problem zum grossen Teil gelöst. «Wir erhalten nur noch sehr selten negative Rückmeldungen», sagt Kern. Die Kommunikation mit der Stadt beschreibt sie als konstruktiv und lösungsorientiert.
Das Amphibienleitsystem im Degenried ist nicht das einzige in der Stadt. Auch entlang der Wehntalerstrasse bei den Katzenseen hält eine Mauer die Amphibien ab, die viel befahrene Strasse zu überqueren. Kameras in den Durchlässen zeichnen auf, wie viele Tiere sie nutzen. Es werden wohl nicht sehr viele sein, meint Angelone. «Die Population ist praktisch ausgelöscht worden.» Andernorts kann die Stadt seit Jahren auf organisierte Freiwillige zählen, wie etwa im Irchelquartier. Oder auf spontane Helfer, wie kürzlich in der Nähe des Hallenstadions. Dort kreuzt der Weg von Molchen in ihr Laichgewässer einen Weg für Fussgänger. Im Anschluss an ein Konzert im Stadion wurden viele Tiere zertreten. Passanten gelang es aber, rund hundert Molche zu retten. Sie meldeten ihre Aktion und das Problem danach Angelone weiter. Diese will nun prüfen, ob an dem Ort weitergehende Schutzmassnahmen notwendig sind.
Grosser Ansturm schon vorbei
Mittlerweile fällt leichter Regen, es ist 20 Uhr und dunkel. Mit der Taschenlampe macht sich Angelone entlang des Leitwerks im Degenried auf die Suche und wird bald fündig. An diesem Abend sind viele Molche unterwegs, Frösche bloss selten und Kröten noch ein wenig seltener. «Der grosse Ansturm ist in diesem Jahr wohl schon vorbei», sagt Angelone. Mehrfach wurden in den letzten Jahren an den Durchgängen die Tiere gezählt, säuberlich nach Art sortiert. Einmal war auch ein Feuersalamander dabei. Anhand der Daten lasse sich die positive Wirkung des Leitsystems nachweisen, sagt Angelone. «Die Population hat sich deutlich erholt.» Das Leitsystem sei ein Erfolg. 90 000 Franken kostete das Material dafür, aufgestellt wurde es vom Personal des Forstreviers Nord, das auch den Unterhalt besorgt.
Auf dem Weg zurück in Richtung Dolderbahn fällt Angelone eine Kröte auf, die mit erhobener Brust mitten auf der Degenriedstrasse sitzt. «Die Haltung ist typisch für Erdkröten», sagt Angelone. Sie packt das Tier mit schnellem Griff – und überlegt einen Moment lang, auf welcher Strassenseite sie es ablegen soll. Schliesslich legt sie die Kröte in den Wald. «Die ist schon auf dem Rückweg», sagt sie. (dh.)