Er besiegte den Grössten aller Zeiten

Zurück

In seinem neuen Comic erzählt Marc Locatelli vom Radrennen, das den Höhepunkt seiner Karriere bedeutete. Es geht darin aber um weit mehr als seine eigene Geschichte.

Noch feilt Marc Locatelli in seinem Atelier in Oerlikon an den letzten Feinheiten seines Comicbandes «Die Nacht, in der ich Eddy Merckx bezwang». «Es gibt noch ein paar Illustrationen, mit denen ich noch nicht ganz zufrieden bin», meint der 65-Jährige. Am Ende soll schliesslich jedes Detail stimmen in diesem Werk, das Locatelli als Herzensangelegenheit bezeichnet. Die grosse Bedeutung des Buches für den Autor und Zeichner kommt nicht von ungefähr, denn es geht darin um nichts Geringeres als sein schönstes Erlebnis auf dem Rad: das Bahnrennen «Das Blaue Band von Zürich» 1978, welches im Rahmen der «Nacht der Superstars» im Hallenstadion ausgetragen wurde. Die Startliste war damals gespickt mit grossen Namen, darunter auch demjenigen von Eddy Merckx. Der «Kannibale» gilt als der grösste Radrennfahrer aller Zeiten, seine fünf Gesamt- und 34 Etappensiege an der Tour de France bedeuten Rekord.
Zu dieser Zeit war Locatelli ein guter Elite-Amateur-Fahrer und wurde deshalb von den Organisatoren als Lückenfüller an das «Blaue Band» eingeladen. Für den damals 24-Jährigen war dieses Rennen in einem Weltklassefeld natürlich ein grosses Ereignis, das eine dementsprechende Vorbereitung verlangte. «Ich habe mir viele Gedanken dazu gemacht und Tipps von Radsportkollegen eingeholt, wie ich in diesem Feld bestehen könnte. Der entscheidende Ratschlag kam dann von meinem Kollegen Sergio Gerosa.» Dank dieser Taktik, die im Comic genau beschrieben ist, gelang es Locatelli, in den 30 Rennminuten an Merckx dranzubleiben und mit ihm auf die letzte Runde zu gehen. Und dann folgte der grösste Moment in Locatellis Radsportkarriere: Auf der Zielgerade überspurtete er den Belgier und schlug ihn ganz knapp. «Es war zwar nur der Sprint um Rang 8, aber es fühlte sich natürlich an wie ein grosser Sieg. Mein Traum, mein grösstes Idol zu schlagen, ist in diesem Moment in Erfüllung gegangen», erzählt Locatelli. Auf die riesige Freude folgte kurz darauf aber die grosse Enttäuschung: Die Zeitung «Sport» druckte am nächsten Tag die Rangliste des «Blauen Bandes» – mit Merckx auf Rang 8 und Locatelli auf Rang 9. «Diese Anekdote spielt auch eine Rolle im Comic, es geht um die Ungerechtigkeit, dass der Grosse oben und der Kleine unten bleibt, obwohl es in diesem Fall umgekehrt gewesen wäre», sagt Locatelli.

Nostalgie ist im Trend
In den über 40 Jahren, die seit jener Nacht im Hallenstadion vergangen sind, hat Locatelli sich viele Gedanken dazu gemacht, wie er diese Geschichte verewigen könnte. «Ich habe von vielen Seiten die Bestätigung erhalten, dass es eine gute Geschichte sei und sich daraus vielleicht etwas Grösseres machen lasse», sagt Locatelli. Ein Comicband schien für den professionellen Illustrator und Grafiker naheliegend. Die Finanzierung des Projekts gestaltete sich jedoch als Problem: «Es ist ein Blindflug. Man arbeitet daran, ohne zu wissen, ob die Geschichte überhaupt verlegt und gekauft wird. Dieses Risiko konnte ich mir jahrelang nicht leisten», so Locatelli. Dazu war er sich lange nicht sicher, ob seine zeichnerischen und erzählerischen Fähigkeiten für einen solchen Comic genügen.
Beim zweiten Aspekt half der Comicband zur Geschichte der Tour de Suisse, den Locatelli 2017 zusammen mit dem Radsportjournalisten Martin Born herausgab. Als Hauptverantwortlicher für die Bilder, an denen zahlreiche Illustratoren beteiligt waren, sammelte er wertvolle Erfahrungen: «Zu sehen, dass ich das kann und dass es klappt, gab mir Selbstvertrauen für mein eigenes Projekt.» Das andere Problem, die Finanzierung, löste sich mit seiner Pensionierung im vergangenen Januar und etwas geerbtem Geld, das ihm sein Vater hinterlassen hatte.
Der Schwierigkeit, seine Leser dazu zu bringen, sich ebenfalls für seine doch ziemlich persönliche Geschichte zu interessieren, ist sich Locatelli bewusst. Deshalb erzählt er nicht nur die Geschichte von ihm und Merckx, sondern auch zahlreiche Nebenhandlungen, die aber alle in irgendeiner Form mit jener legendären Nacht im Hallenstadion zu tun haben. Locatelli sieht sein Werk auch als eine Hommage an die Bahnradrennen im Hallenstadion, die inzwischen der Vergangenheit angehören. «Für mich hatte das Hallenstadion als junger Rennfahrer eine grosse Bedeutung. Ich habe viel dort traininert, bin einige Rennen gefahren. Es wurde zu einer Art Heimat», begründet er. Auch räumlich habe diese riesige Halle mit der Holzrennbahn immer eine grosse Faszination auf ihn ausgeübt. «Ich denke, viele Leser werden sich an diese Zeiten zurückerinnert fühlen und werden Freude daran haben», ist sich Locatelli sicher. Das grosse Interesse, auf das der Tour-de-Suisse-Comic damals stiess, überraschte Locatelli deshalb nicht: «Auch dort spielte der Nostalgiegedanken eine grosse Rolle. Heute liegen Vintage und Retrostil im Trend, auch im Radsport.»

Verbindung von Kultur und Sport
Man spürt auch bei Locatelli die Sehnsucht nach diesen Zeiten, vor allem wenn es um sein Interesse für den professionellen Radsport geht. «Ich schaue immer noch Radrennen, die Tour de Suisse und die Tour de France verfolge ich mit Interesse. Es ist aber nicht mehr die gleiche Begeisterung da wie früher», gibt er zu. Früher sei es archaischer und persönlicher gewesen, man habe sich mit den Stars viel besser identifizieren können. «Heute ist alles so professionell und strukturiert, irgendwie gleichgeschaltet, dass dieses persönliche Element kaum noch vorhanden ist. Das ist meiner Meinung nach ein grosser Verlust», fügt er hinzu.
«Etwas neidisch»
Trotz des Erfolgs des Tour-de-Suisse-Comics ist Locatelli etwas neidisch auf seine Berufskollegen in Belgien und Frankreich, beides sowohl Radsport- als auch Comic-Hochburgen. Dementsprechend erfolgreich sind Radsportcomics dort. In der Schweiz hingegen ist diese Branche ein sehr kleiner Markt, was in Locatellis Augen vor allem in der klaren Trennung von Sport und Kultur liegt: «Die Verbindung dieser beiden Bereiche gestaltet sich hier als schwierig.» Mit der Kunstkabine, die er in der offenen Rennbahn in Oerlikon betreibt und in der er Comics, Cartoons, Fotos und Kunst zum Thema Radrennsport ausstellt, will Locatelli diese Verbindung herstellen. Unter den aktiven Rennfahrern ist das Interesse dafür aber gering. «Nur ein aktiver Rennfahrer kommt regelmässig in die Kunstkabine und das ist ein Franzose. Ich finde es schon etwas schade, dass sich die Schweizer Rennfahrer so nicht für Kunst interessieren, auch wenn sie direkt mit ihrem Sport zu tun hat. Diese Verbindung wäre doch bereichernd», bedauert Locatelli. Er erkenne aber eine Tendenz, dass diese Trennung auch in der Schweiz langsam aufbröckelt, zumindest im Breitensport. «Heute haben viele Leute ein Bedürfnis nach Design und Gesundheit. Sie wollen das Schöne, also die Kunst, und das Gesunde, also den Sport verbinden. Ich hoffe, irgendwann dringt das auch zu den Rennfahrern durch.»
Locatelli sieht sich in dieser Ansicht auch durch den Erfolg seines Crowdfundings bestätigt, mit dem er Geld für seinen Comic sammelte: In kurzer Zeit sind über 11 000 Franken zusammengekommen. «Meine Erwartungen daran wurden mehr als erfüllt», freut sich Locatelli, zumal die Aktion noch bis Mitte Juli dauert. Auf einen ähnlichen Erfolg hofft er auch im September, wenn «Die Nacht, in der ich Eddy Merckx bezwang» im Handel erscheint. (gab.)

«Die Nacht, in der ich Eddy Merckx bezwang» erscheint am 1. September beim Verlag Edition Moderne.
Crowdfunding auf www.wemakeit.com.