Eine berührende Migrationsgeschichte

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«Woher komme ich? Wohin gehöre ich?» Diesen fundamentalen Lebensfragen geht die in Affoltern geborene Chantal Foster im Roman «Im Schmelzwasser» auf den Grund. Darin beschreibt Foster auch die Migration, die Ankunft in Zürich und die Integration trotz fremder Sprache.

Es war das Little Italy von Affoltern. Wo heute der Kioskshop an der Bushaltestelle Zehntenhausplatz seine Glacen verkauft, konnte man sich in den 60er-Jahren die ersten Pixie Cuts schneiden oder langes Haar zu einem Bouffant toupieren lassen. Das Coiffeurgeschäft im Erdgeschoss mit der niedrigen Decke und den hellrosa Trockenhauben, wo der Duft von Haarspray und die Musik aus dem Radio Aufbruch und Rock ’n’ Roll verhiessen, wurde ursprünglich vom Süditaliener Pippo und seiner temperamentvollen ­Familie geführt und Jahre später von ­Aniello übernommen. Gleich um die Ecke, man entfernte sich nur wenige Meter von der lärmigen Wehntalerstrasse, gab es ein schmuckes Blumengeschäft, und daneben befand sich die etwas düstere Werkstatt des Schumachers Giovanni. Wurde die Tür zu seinem Laden geöffnet, ertönte sogleich ein heller Glockenton.

Im Atelier selbst war es allerdings so still, wie sein Bewohner es war. Kein Wort zu viel, der Geruch von Leder und Leim sprach für sich selbst. Das Werkzeug, geordnet und griffbereit, glänzte in stummer Eintracht, die ein­zig durch die Arbeitsbewegungen des Schuhmachers unterbrochen wurde. Coiffeur oder Schuhmacher, Bauarbeiter, Schneiderin, Kellner, Buffetdame – es waren Menschen, die wegen der wirtschaftlichen Nachkriegsmisere in ihrer Heimat gezwungen worden waren, Italien zu verlassen, um sich in der Fremde ein neues Dasein aufzubauen. Doch ein Stück ihres jeweiligen Herkunftsorts brachten sie alle mit.

Die emigrierte italienische Mutter

«Woher komme ich? Wohin gehöre ich?» sind Fragen, die sich auch die Protago­nistin Caterina aus dem Roman «Im Schmelzwasser» stellt. Die in Affoltern aufgewachsene Autorin Chantal Foster evoziert mit diesem Titel den Lebenszy­klus schlechthin, den Wechsel der Gezeiten, das Erwachen eines neuen Lebensabschnittes, und nimmt den Faden der Emigration ihrer italienischen Mutter auf. Sie verwebt in ihrem Roman zwei Handlungsstränge zu einer Geschichte, denn die Spurensuche Caterinas in der Jetzt-Zeit führt die Leserinnen und Leser zurück bis in die Zeit des Zweiten Weltkriegs in einem italienischen Tal im Friaul.

«Mit stilistischer Finesse»

«Die Kriegserlebnisse einer Bevölkerung zwischen Mussolinis Faschismus, Hitlers Besatzung und der Widerstandsbewegungen der Partisanen bindet Chantal Foster geschickt in ihre Handlung ein und lässt sie an ihren Figuren erfahrbar werden. Eine sehr berührende Erzählung, die mit stilistischer Finesse in einem der dunkelsten Kapitel der jüngeren Geschichte zeigt, wie Hoffnung in die Zukunft Einzug hält», schreibt der Buchblogger BjoernAndBooks.

Neue Umgebung, neue Sprache

Nicht nur die Thematik des Zweiten Weltkriegs kommt in der Geschichte zum Tragen, sondern auch die Migration, die Ankunft in Zürich und das Sich-Herantasten an einen fremden soziokulturellen Kontext durch das Lernen einer neuen Sprache. Dabei lässt die Autorin das sinnliche Herkunftstal Norditaliens in einer poetischen Naturprosa aufleben und stellt es der Reizüberflutung und der unverbindlichen Kommunikation in einer technologischen Welt gegenüber. Die verschiedenen Erzählstränge geben Momentaufnahmen der Protagonisten in ihrer jeweiligen Epoche wieder, es sind Gesellschaftssituationen, welche die Leser Stück um Stück zu einer Collage zusammenfügen, bis sowohl ein gegenwärtiges als auch ein vergangenes Bild sich aus der Handlung he­rausschält. Zwei Schauplätze, zwei Leben vereinen sich zu einem Schicksalsstrom, der klärend und aufwühlend zutage fördert, aber auch wegschwemmt. Das Leitmotiv des Wassers erschafft den zyklischen Zusammenhang zwischen dem ­einzelnen Menschen und der Welt. Ein idealer Buchtipp zur (zumindest in Alpinlagen noch aktuellen) Schneeschmelze und zum Frühsommeranfang! Erhältlich bei der Buchhandlung Nievergelt in Oerlikon oder online. (red.)