Jetzt wachsen sie wieder, die glänzend schwarzen Beeren der Tollkirsche. Auch in den Regionen der Stadt Zürich findet man sie nicht selten. Doch Achtung: Alle Pflanzenteile der Tollkirsche sind stark giftig.
Sie sieht harmlos und verlockend aus. Die Tollkirsche (Atropa Belladonna) ist eine bis 1,5 Meter hohe Staude mit eiförmigen Blättern und gehört zur Familie der Nachtschattengewächse. Die Blüten sind einzeln gestielt, glockig und von braunvioletter Farbe. Nach der Blüte reifen im Juli und August zuerst grüne, dann kirschgross glänzend-schwarze Beeren, die süsslich schmecken und von Laien mit Brom- oder Heidelbeeren verwechselt werden können. Neben der schwarzfrüchtigen Tollkirsche findet man auch eine allerdings seltene gelbfrüchtige Varietät.
Die Pflanze wächst in Europa und Kleinasien in Laub- und Nadelwäldern oft an deren Rändern. Der Zürcher Michael Thalmann, Umweltwissenschaftler vom Naturnetz Pfannenstil, beobachtet die Tollkirsche auch auf Stadtgebiet, etwa am Zürichberg, Uetliberg oder am Katzensee.
Wenige Beeren wirken tödlich
Beim Picknick oder auf dem Waldspaziergang könnten Kinder schnell einmal eine der süsslichen Tollkirschbeeren in den Mund stecken, sagt Thalmann. Und das ist sehr gefährlich: «Alle Pflanzenteile sind toxisch und enthalten das hoch giftige Alkaloid (S)-Hyoscyamin, das die Übertragung von Nervenimpulsen auf die Muskulatur blockiert.»
Bei Kindern können bereits zwei bis drei Beeren tödlich wirken, bei Erwachsenen zehn bis zwölf. Innerhalb einer Stunde treten Vergiftungssymptome wie Erregungszustände, Delirium, Halluzinationen, Krampfanfälle, weite Pupillen, schneller Puls und Fieber auf. In solchen Fällen ist sofort ein Arzt zu kontaktieren oder gegebenenfalls bei Tox Info Suisse über die 24-Stunden-Notfallnummer 145 Rat einzuholen. Bei schweren Vergiftungen stellt sich der Tod durch Herzrhythmusstörungen oder zentrale Atemlähmung ein.
Auch Erwachsene sind nicht gefeit gegen das Gift. So vergiftete sich vor einigen Jahren eine ausländische Touristin auf einem Waldspaziergang am Zürichberg, als sie aus Neugier Beeren der Tollkirsche einnahm. Die Frau fiel danach im Hotel durch ein abnormales Verhalten auf und musste mit mittelschweren Vergiftungssymptomen wie Krampfanfällen und Halluzinationen ins Spital. «Vergiftungen mit den Beeren der Tollkirsche sind gar nicht so selten», sagt Hugo Kupferschmidt, Direktor des Tox Info Suisse in Zürich. Das Giftinformationszentrum registriert jährlich rund 20 Vergiftungsfälle mit der Tollkirsche – gut die Hälfte davon betreffen Kinder.
«Hexensalben»
Die Tollkirsche findet seit der Antike nicht nur in der Medizin, unter anderem als Schlafmittel, Verwendung. Als psychoaktiver Zusatz zu Bier, Met, Palmwein und Wein wurde sie ebenso wie zu rituellen Handlungen benutzt. Auch heute noch leistet das in der Tollkirsche enthaltene Hyoscyamin bei Augenleiden gute medizinische Dienste, da es eine Ruhigstellung des Auges und Herabsetzung der Schmerzempfindlichkeit erzeugt.
Im 16. Jahrhundert fand die Tollkirsche auch als Kosmetikum Anwendung. Damals galten grosse, schwarze Pupillen als Schönheitsideal der Frau. Sie träufelten sich den gepressten Saft der Tollkirsche in die Augen. Das Hyoscyamin bewirkte dann eine vorübergehende Vergrösserung der Pupillen und die Weiblichkeit verschaffte sich so einen glutvoll schönen Blick. Dieser Wirkung, die meist mit Störungen der Sehschärfe einhergeht, verdankt die Tollkirsche auch ihren Artnamen Belladonna – schöne Frau. Tollkirschenextrakte sind ferner als Zutat der sogenannten «Hexensalbe» bekannt. Der italienische Toxikologe und Autor Enrico Malizia fand heraus, dass Frauen, die ihren Körper vor dem Schlafengehen mit der Salbe eingerieben hatten, nachts träumten, sie könnten fliegen. Die Zusammensetzung führte offenbar zu derart glaubwürdigen Halluzinationen, dass die Betroffenen an die Realität der Träume glaubten. Einige der Frauen wurden deshalb sogar als
Hexen auf den Scheiterhaufen verbrannt. Möglicherweise steht auch der legendäre Ritt der Hexen auf dem fliegenden Besen mit diesen hyoscyamin-typischen Flug- oder Schwebe-Halluzinationen in Zusammenhang. Daher rührt auch der Name Tollkirsche, weil sich nach der Einnahme «Tollheit» einstellte.
Dank seiner muskelerschlaffenden Wirkung wurde Hyoscyamin auch als Gegenmittel für Krampfgifte eingesetzt. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Tollkirschengift auch in hiesigen Militärkreisen als Inhaltsstoff von «Atropinspritzen» bekannt. Die Spritzen waren bei einer Vergiftung durch Nervengas als krampflösende Gegenmassnahme vorgesehen. Zu einer Massenvergiftung kam es in Israel während des Golfkrieges 1991, als sich viele Leute dieses Mittel prophylaktisch verabreichten, aus Angst vor einem irakischen Giftgasangriff.
Das Gift der Tollkirsche
Als Hauptwirkstoff der Tollkirsche ist heute das Alkaloid (S)-Hyoscyamin bekannt und nicht das Atropin, wie in älterer Literatur angegeben. Atropin ist nämlich ein Gemisch aus gleichen Teilen (S)- und (R)-Hyoscyamin. Von diesen optischen Isomeren, die sich nicht in ihrer chemischen Zusammensetzung, sondern nur in der spiegelbildlichen räumlichen Struktur ihrer Moleküle unterscheiden, bildet die Tollkirsche zur Hauptsache das für die biologische Wirkung verantwortliche (S)-Hyoscyamin und nur in sehr kleinen Mengen (R)-Hyoscyamin. Als starkes Gift bekannt ist auch das (S)-Scopolamin, das aber in der Tollkirsche nur in Spuren vorkommt und wahrscheinlich nicht wesentlich zur Giftwirkung beiträgt. Die Wirkung des Atropins beziehungsweise seines optischen Isomers (S)-Hyoscyamin beruht auf einer Hemmung des Neurotransmitters Acetylcholin, einer natürlichen Signalüberträgersubstanz, die in unserem Organismus mitverantwortlich ist für die Übertragung von Nervenimpulsen auf die Muskulatur. Mit seiner ausgeprägten halluzinogenen Wirkung gehört (S)-Hyoscyamin zu den psychoaktiven Alkaloiden mit anticholinergenem Wirkungsbild. Hans-Peter Neukom
Bei einer Vergiftung erreicht man Tox Info Suisse unter der 24-Stunden-Notfallnummer 145. Weitere Infos: www.toxinfo.ch