Eine Umfrage bringt es an den Tag: Die wenigsten Wohnbaugenossenschaften kennen eine obere Einkommensgrenze bei ihren Mieterinnen und Mietern. Dabei besagt eine Charta, dass sie Wohnungen mit günstigen Mieten bieten sollen, besonders für Haushalte mit geringen Einkommen.
1565 Franken Nettomiete für eine Dreizimmerwohnung, 1918 Franken für eine Vierzimmerwohnung pro Monat. Das sind die Durchschnittszahlen von Anfang 2021, welche das Statistische Amt des Kantons Zürich für die Stadt erhoben hat. Hier, wo 90 Prozent der Einwohnerinnen und Einwohner Mieter sind.
Wer auf dem freien Wohnungsmarkt eine Mietwohnung sucht, reibt sich bei diesen Zahlen die Augen. Auf Internetportalen wie Immoscout24 oder Homegate kann man von solchen Angeboten nur träumen. Durchschnittliche Dreizimmerwohnungen werden schnell für 3000 Franken angeboten, Vierzimmerwohnungen für 4000 Franken und mehr. Beispiele: eine 65-Quadratmeter-Altbauwohnung an der Motorenstrasse für genau 3000 Franken, eine eher durchschnittliche Vierzimmerwohnung an der Mutschellenstrasse: Monatsmiete 4500 Franken.
«Ein gesellschaftliches Bedürfnis»
Warum diese Diskrepanz? Gut 27 Prozent der Wohnungen in Zürich sind Wohnungen gemeinnütziger Institutionen. Sie werden von Wohnbaugenossenschaften oder von der Stadt verwaltet. Die Mitglieder von Wohnbaugenossenschaften sind gemäss dem Verband Wohnbaugenossenschaften Schweiz der Kostenmiete verpflichtet. «Die gemeinnützigen Wohnbauträger entziehen dem Markt auf Dauer Boden und decken mit der Bereitstellung von preisgünstigem Wohn- und Gewerberaum ein wichtiges gesellschaftliches Bedürfnis», steht im Leitbild des Regionalverbands Zürich.
Beim nationalen Verband findet man zudem die «Charta der gemeinnützigen Wohnbauträger in der Schweiz». In Punkt zwei heisst es: «Die gemeinnützigen Wohnbauträger bieten Wohnraum für alle Bevölkerungskreise an (...) Sie berücksichtigen insbesondere Familien, Behinderte und Betagte und sind bestrebt, Wohnungen mit günstigen Mieten Haushalten mit geringen Einkommen zur Verfügung zu stellen.»
Fazit nach weitverbreiteter Einschätzung: Wohnbaugenossenschaften stellen günstigen Wohnraum zur Verfügung für Leute, die darauf angewiesen sind und wenig verdienen. Eine Umfrage dieser Zeitung bei ausgewählten Wohnbaugenossenschaften zeigt jedoch, dass die wenigsten eine Grenze nach oben beim Einkommen kennen. Für subventionierte Wohnungen werden allerdings die heute recht strikten Einkommenslimiten des Kantons Zürich angewendet.
Finanzen sind nur ein Kriterium
Ist man mal in einer Genossenschaftswohnung, dann kann und will man drinbleiben. Denn auf dem freien Wohnungsmarkt sind die Mieten deutlich höher. Die Stadt Zürich mit ihren rund 9200 Wohnungen kennt ein recht rigoroses Reglement: Das Einkommen darf das Vierfache des Bruttomietzinses nicht überschreiten.
Anders die Allgemeine Baugenossenschaft Zürich, kurz ABZ. Sie ist «offen für alle». Eine Obergrenze beim Einkommen gibt es nur für Wohnungen, die von der öffentlichen Hand subventioniert werden. Die ABZ ist eine riesige Genossenschaft mit über 5000 Wohnungen in der Stadt und im Grossraum Zürich, unter anderem in Opfikon und Wallisellen. «Wer in einer subventionierten Wohnung wohnt und die Einkommensgrenze längerfristig überschreitet, muss innerhalb von zwei Jahren in eine nicht subventionierte Wohnung wechseln», sagt Ariel Leuenberger, Leiter Kommunikation. Habe die ABZ keine passenden Wohnungen oder würden die Angebote abgelehnt, müsse eine Wohnung ausserhalb der ABZ gesucht werden. Freilich gilt diese Vorgabe nur für drei Prozent des ABZ-Wohnungsbestandes. Das relativiert vieles.
Bei der Baugenossenschaft Oberstrass sind die finanziellen Verhältnisse der Interessenten nur eines von verschiedenen Kriterien. «Bewerber mit kleinem oder mittlerem Einkommen sind bei uns willkommen, Reiche haben keine Chance auf eine Wohnung. Wir achten gleichzeitig auf eine gute soziale Durchmischung in unseren Häusern», sagt Präsident Mathias Ninck. Eine Aktualisierung des Vermietungsreglements ist derzeit in Arbeit, soll aber erst umgesetzt werden, wenn der geplante Neubau an der Winterthurerstrasse gebaut werden kann. Das Bauprojekt ist im Moment wegen des Lärmschutzes vor Gericht blockiert.
Die Baugenossenschaft Letten (BGL), mit Siedlungen etwa in Wipkingen, will ihre Statuten komplett überarbeiten. «Deshalb lässt sich zum heutigen Zeitpunkt noch nichts über deren Inhalt und die Inkraftsetzung sagen, das letzte Wort werden die Genossenschafterinnen und Genossenschafter haben», erklärt Co-Geschäftsleiterin Annemarie Kasper. Die Statuten von 1973 sehen keine Regelung betreffend Einkommensverhältnisse vor. Der breiteren Öffentlichkeit ist die BGL ein Begriff. Grund: Eine unabhängige Untersuchung hatte einen schweren Anfangsverdacht bekräftigt. Ehemalige Angestellte sollen von der BGL über eine Million Franken abgezweigt haben. Ein Verfahren läuft.
Auch bei der Familienheim-Genossenschaft Zürich – kurz FGZ –, bekannt durch ihre Siedlungen in bester Wohnlage im Friesenberg-Quartier, ist das Vermietungsreglement in Bearbeitung für die Veröffentlichung auf der Website. «Dies ist voraussichtlich im Spätherbst 2021 so weit», gibt Kommunikationsverantwortliche Josephine Bond Auskunft. Die FGZ hat kürzlich Schlagzeilen gemacht, weil ein Bundesgerichtsentscheid den geplanten Abriss der Gründersiedlung am Friesenberg verboten hatte.
Weitere angefragte Genossenschaften wie die Baugenossenschaft Glattal Zürich, die Siedlungsgenossenschaft Sunnige Hof oder die Baugenossenschaft des eidgenössischen Personals kennen keine Obergrenze beim Einkommen.Immerhin: Die Genossenschaft Kalkbreite etwa erhebt laut eigener Aussage jährlich die Einkommensverteilung in der Bewohnerschaft. Stellt sie dabei fest, dass sie verhältnismässig viele Personen mit hohem Einkommen hat, so würde sie bei Neuvermietungen Haushalte mit geringem Einkommen bevorzugen. Dies so lange, bis sich das Verhältnis angepasst hat. Allerdings ist dies bislang noch nie der Fall gewesen.
Die Baugenossenschaft Zurlinden, die auch eine Siedlung an der Goldküste in Küsnacht hat, orientiert sich an den Vorgaben des Büros für Wohnbauförderung der Stadt Zürich «und im Rahmen derVerhältnismässigkeit». Zur Anwendung komme die Faustregel, dass nicht mehr als ein Drittel des Einkommens für Mietkosten ausgegeben werden sollte. Bei subventionierten Wohnungen und wenn die Vorgaben nicht mehr erfüllt werden, wird innerhalb der Genossenschaft eine passende Wohnung angeboten.
Rueff-Frenkel stellt Forderungen
Für FDP-Kantonsrätin Sonja Rueff-Frenkel ist klar: «Wohnbaugenossenschaften erhalten staatliche Unterstützung, damit sie ihren Zweck erfüllen können. Der besteht darin, Menschen mit geringem Einkommen städtischen Wohnraum unter Marktpreis bieten zu können», findet die 48-Jährige, die beim Hauseigentümerverband Aargau arbeitet. Sie fordert «zwingend, dass eine Einkommensobergrenze festgelegt wird». Die jetzige Praxis stosse bei sehr vielen auf Unverständnis. Und: Diese Grenze müsse regelmässig kontrolliert werden, da sich die Einkommen, gerade bei jungen Menschen, sehr schnell entwickeln würden. Das auftretende Problem, dass Leute und Familien aus Niedriglohnbranchen nun oft ausserhalb von Zürich wohnen müssten, könne man angehen, indem die Kriterien streng angewendet und kontrolliert würden. «Gleichzeitig muss die Politik die Rahmenbedingungen schaffen, damit es mehr städtischen Wohnraum gibt und damit Private auch mehr bauen», so Rueff-Frenkel, die 2022 für den Stadtrat kandidiert.
Walter Angst versteht das Dilemma
Walter Angst, Kommunikationschef des Stadtzürcher Mieterverbandes und Gemeinderat der Alternativen Liste, ortet die Probleme rund ums günstige Wohnen beim freien Wohnungsmarkt: «Dass Mieterinnen und Mieter von Wohnbaugenossenschaften in ihren meist langjährigen Mietverhältnissen eine Einkommensentwicklung durchmachen, liegt auch wegen der moderaten Mieten auf der Hand. Je mehr die Mieten auf dem privaten Markt steigen, umso geringer ist der Anreiz, aus einer Genossenschaft auszuziehen.»
Für Angst, der wie Rueff-Frenkel im kommenden Jahr für den Zürcher Stadtrat kandidiert, ist klar: «Menschen nehmen in Kauf, in einer nicht mehr zu 100 Prozent für sie stimmenden Wohnung zu leben, weil sie nicht von Immobilienhaien abgezockt werden wollen.» Ob Genossenschaften in den auf eigenem Land erstellten Siedlungen Obergrenzen für Einkommen von Haushalten festlegen wollen, sei ihre Entscheidung. «Ob mit solchen Obergrenzen mehr erreicht wird als mit der Durchsetzung der von Genossenschaften ziemlich flächendeckend angewendeten Belegungsvorschriften, wage ich zu bezweifeln. Untersuchungen belegen das Gegenteil», ist der 60-jährige Angst überzeugt.
Stadträte wohnen meist in eigenen vier Wänden
Es gab Zeiten, da wohnten zwei amtierende Stadträte in Wohnbaugenossenschaften (Josef Estermann, Esther Maurer, beide SP). Aktuell trifft dies lediglich auf Karin Rykart (Grüne) zu. Sie ist in einer Überbauung der in den 1990ern gegründeten privaten Wohnbaugenossenschaft Kraftwerk 1 zu Hause. Mieter sind zudem die Stadträte Michael Baumer (FDP) und Andreas Hauri (GLP). Das macht im Stadtrat eine Quote von 33 Prozent. Das ist vergleichsweise wenig, bezogen auf die rund 90 Prozent der Stadtzürcher Bevölkerung, welche Mieterinnen und Mieter sind. Zu den Immobilienbesitzerinnen und -besitzern im Stadtrat gehören Corine Mauch (SP), Filippo Leutenegger (FDP), André Odermatt (SP), Richard Wolff (AL), Daniel Leupi (Grüne) und Raphael Golta (SP).