Er ist der Kopf hinter «Fascht e Familie» und hat internationale Bestseller geschrieben: Charles Lewinsky ist einer der erfolgreichsten Schriftsteller der Schweiz. Seinen neuen Roman erzählt er aus der Sicht eines Verbrechers, der literarische Ambitionen hegt, während sein Schöpfer längst am nächsten Buch arbeitet. Das Monatsgespräch.
In Ihrem neuen Roman «Der Stotterer» startet ein Betrüger im Gefängnis eine Karriere als Schriftsteller. Lässt sich die Schriftstellerei denn erlernen? Es gibt ja mittlerweile einige Ausbildungsstätten.
Charles Lewinsky: Das ist jetzt natürlich schwierig zu beantworten, ich unterrichte ja bekanntlich auch hin und wieder an diesen Orten.
Deshalb frage ich den Experten.
Ich denke, es ist so: Man ist ein Schreiber oder man ist es nicht. Es gibt in diesen Kursen immer zwei Arten von Studenten. Jene, die sagen, ich will schreiben lernen, damit ich dann ein Buch schreiben kann, und jene, die in der Pause zu mir kommen und sagen: «Ich habe hier zufällig 500 Seiten Manuskript dabei, und ich wollte fragen, ob Sie einen Blick darauf werfen können.»
Und das sind die Schriftsteller?
Ganz genau. Das heisst nicht unbedingt, dass sie etwas taugen. Ein Musiker ist auch ein Musiker, unabhängig davon, ob man ihn jetzt ans Konsi schickt oder nicht. Ich habe eine Geschichte gelesen über einen jungen Asylsuchenden (in den Vereinigten Staaten?), der von seinem Lehrer im Schach gefördert wurde und nur ein Jahr später eine Meisterschaft gewann. Der war auch schon immer Schachspieler. Genauso ist es mit dem Schreiben, es ist wie ein Bazillus, der Bazillus, der darauf wartet, auszubrechen.
Aber was bringen Sie ihnen dann bei?
Handwerkliche Details und wie man sich Umwege spart. Sonst nichts. Das Schreiben ist ja kein geschützter Beruf. Genauso wie die Schauspielerei. Begabt ist, wer Schulgeld zahlt. Dann wird man auch in 30 Lektionen zum Dichter. Das hat mit meiner Arbeit wenig zu tun.
Immerhin sind Sie einer der erfolgreichsten Schriftsteller und Drehbuchautoren in der Schweiz. Zieht es Sie wieder zum Fernsehen?
Ich war etliche Jahre beim Schweizer Fernsehen. Ich habe das Privileg, mir das nicht mehr ansehen zu müssen und keine Meinung dazu zu haben. Ich schaue kein Fernsehen.
Das kann ich jetzt kaum glauben.
Es ist so. Kürzlich hat mich ein Journalist gefragt, was ich von dieser neuen «Late Show» halte, und ich habe ihm gesagt, dass ich sie nicht kenne. Er hat das dann so abgedruckt, als hätte ich das ironisch gemeint. Das hat mich sehr geärgert.
Dann werden Sie auch keinen Zürcher «Tatort» schreiben?
Nein, ich bin beim Fernsehen überhaupt nicht mehr involviert. Aber ich würde das auch nicht wollen, da gibt es viel zu viele Vorgaben. Die SRG ist die einzige Verwaltung, die ich kenne, die sich einen eigenen Fernsehsender leistet. Aber darüber möchte ich lieber nicht reden. Als Schriftsteller arbeite ich für mich alleine, das hab ich sehr gern.
Tauschen Sie sich mit Ihrem Sohn, dem Filmemacher Micha Lewinsky, über die Arbeit als Autor aus?
Wir haben ähnliche Berufe, ja, aber ich halte mich bei dem, was er tut, draussen. Er schreibt bessere Drehbücher, als ich es je getan habe. Warum sollte ich ihm da dreinreden? Wir reden lieber über die Enkel als über unsere Arbeit.
«Es gibt einen Fachbegriff für Autoren, die sagen, dass sie keine Kritiken lesen: Man nennt sie Lügner.»
Das neue Buch erscheint erstmals im traditionellen Gewand des Diogenes Verlags. Ein spezielles Gefühl?
Ich bin sehr froh, dass ich so schnell wieder eine Heimat gefunden habe als Autor. Das Buch war ja schon fertig. Aber ich muss Ihnen auch sagen, wenn ich das Manuskript beim Verlag abgebe, ist das Kapitel für mich abgeschlossen. Alles, was danach kommt, ist Anti-Klimax. Ich arbeite da schon lange am nächsten Buch.
Ich dachte, dann geht es erst richtig los.
Wenn das Buch rauskommt, erfahre ich doch nur, dass der «Tagi» das Buch gut findet und die «NZZ» schlecht. Das ist für den Verlag wichtig, für mich nicht so sehr.
Sie schauen also nicht fern und lesen keine Kritiken?
Es gibt einen Fachbegriff für Autoren, die sagen, dass sie keine Kritiken lesen: Man nennt sie Lügner. (Lacht.) Natürlich lese ich die Kritiken, aber Sie dürfen das nicht überschätzen. Ich habe zwei Jahre lang an dem Buch gearbeitet. Wenn es dann erscheint, bekomme ich zwar viel Aufmerksamkeit, aber nach zwei Wochen ist der Trubel vorbei.
Sehen Sie die Literaturkritik da in der Pflicht, nachhaltiger zu agieren?
Da muss ich Ihnen jetzt schon wieder so eine Antwort geben: Die Aufgabe der Kritiker ist überhaupt nicht mein Problem. Allerdings finde ich, dass es sich um eine bedrohte Spezies handelt. Das ist das grosse Problem der Zentralredaktionen. Heute finde ich ein- und dieselbe Kritik in zehn verschiedenen Zeitungen. Früher hat man sich verschiedene Zeitungen gekauft und die Kritiken nebeneinandergelegt, und dann hatte man als Leser eine Vorstellung davon, ob einen das Buch interessiert oder nicht. Heute wollen die Journalisten lieber Interviews machen, weil die mehr Clicks bringen ...
Touché ... Aber haben Sie der Kritik im Fall von «Melnitz» nicht auch einen grossen Erfolg zu verdanken?
Das war eine lustige Erfahrung. Viele Menschen dachten ja, dass es mein erstes Buch gewesen sei, weil es so viel Aufmerksamkeit bekam. Dabei hatte ich schon ganz viele Bücher geschrieben. Die kennt bloss niemand. «Melnitz» war ein schönes Geschenk zu meinem 60. Geburtstag, und dazu noch eines, das ich mir quasi selbst gemacht habe.
Sie hatten als Erfolgsautor auch gegen gewisse Vorurteile anzukämpfen.
Man wusste nicht so recht, wo man mich einordnen sollte. Das gilt vor allem für viele Kollegen. Wieso schreibt der jetzt seriöse Bücher? Wissen Sie, «Fascht e Familie», das haben sie mir bis heute noch nicht vergeben. Es gibt dazu einen sehr schönen Spruch des deutschen Dramatikers Oscar Blumenthal: «Du willst bei Fachgenossen gelten? Das ist verlorne Liebesmüh. Was dir missglückt, verzeihen sie selten, was dir gelingt, verzeihen sie nie.»
Ihren Lesern war das nicht so wichtig.
Ich habe einfach gemerkt, dass man mich ständig irgendwo einordnen wollte. Wenn ich von Professoren gefragt wurde, in welcher literarischen Tradition ich mich bewege, wusste ich meistens nicht, wovon die Rede ist. Ich hätte die vielen Werke, die mich angeblich so inspiriert und beeinflusst haben, erst mal auftreiben und lesen müssen. (Lacht.)
«Man darf sich als Autor nicht so wichtig nehmen. Den meisten Menschen ist es doch viel wichtiger, wie der GC-Match ausgeht.»
Sie scheinen eine entspannte Haltung gegenüber der allgemeinen Rezeption und Ihrer Arbeit eingenommen zu haben. Ist das eine Art Weisheit, die der Erfolg mit sich bringt?
Man darf sich als Autor nicht so wichtig nehmen. Schauen Sie mal, wie viele Menschen ein Buch lesen. Das sind herzige Zahlen. Den meisten ist es doch viel wichtiger, wie der GC-Match ausgeht. Das ist einfach eine realistische Haltung. Es geht letztlich um sehr wenig, gesellschaftlich wie finanziell.
Dann raten Sie von der Tätigkeit ab.
Man kann davon nicht leben. Ich lese ja auch an Schulen. Lieber an kaufmännischen als an Gymnasien, dort fragen die Schüler immer das, von dem sie denken, dass es die Lehrer beeindruckt. Kürzlich war ich an einer Gewerbeschule, und ein Schüler hat geradeheraus gefragt, wie viel man eigentlich verdiene als Schriftsteller. Ich fand das eine sehr vernünftige Frage. Nehmen wir an, Ihr Buch kostet 30 Franken, und Sie sind mit 3 Franken pro verkauftes Exemplar am Erlös beteiligt, dann macht das bei 10 000 verkauften Exemplaren, was eine ausserordentlich gute Zahl ist, 30 000 Franken für zwei Jahre Arbeit. Das ist kein Gewerbe, von dem man leben kann.
Sie sind ja nicht nur Schriftsteller, sondern auch viel auf der Bühne unterwegs.
Da sind jetzt mehrere Projekte gleichzeitig am Laufen. Der gemeinsame Auftritt mit Markus Schönholzer und eine szenische Lesung aus der «A-Quotient» mit Judith Stadlin und Michael van Orsouw. Kleinkunst ist mein Hobby. Ich mache das aus Vergnügen.
Darf ich fragen: Fühlen Sie sich in Ihrer Comedy irgendwie eingeschränkt durch Ihren Bekanntheitsgrad? Etwa aufgrund der Tatsache, dass das, was Sie tun, erhöhter Aufmerksamkeit ausgesetzt ist.
Überhaupt nicht. Kein bisschen. Es ist den Leuten völlig wurscht, ob der Lewinsky absurde Lieder schreibt oder seriöse Bücher.
Seriös trifft in diesem Fall vielleicht etwas weniger zu. Es ist ja wiederum eine recht schwarzhumorige Geschichte, die Sie in «Der Stotterer» erzählen.
Es ist ein zutiefst amoralisches Buch. Ich war selber überrascht, wie es herausgekommen ist.
Es hätte also ein klassisches Happy End geben können?
Ja, absolut, aber dann stieg eine Figur plötzlich aus. Es hätte auch sein können, dass der Priester und der Protagonist sich am Ende in die Arme fallen, aber so eine Geschichte entwickelt irgendwann eben auch ihre eigenen Regeln. Darüber habe ich dann kein Kommando mehr. Ich bin nicht der Meinung, dass eine Hauptfigur sehr sympathisch sein muss. Diese Herausforderung hatte ich schon bei «Andersen» ...
Dann schreiben Sie chronologisch?
Ich kann nicht anders. Ich muss immer von vorne anfangen, und ich will nicht wissen, was alles auf dem Weg passiert. Es gibt Autoren, die das machen wie auf einer Wanderkarte, das könnte ich nicht. Wenn meine Figuren ein Haus verlassen und in einen Park gehen sollen, landen sie manchmal völlig woanders. Dann laufe ich ihnen hinterher wie ein Detektiv. Das macht es ja auch spannend.
Sie leben abwechselnd in Zürich und in einem kleinen Dorf in Frankreich. Beobachten Sie die angespannte politische Lage dort?
Sehr genau. Das ist eine ganz schwierige Situation. Und ich habe ein gewisses Verständnis dafür. 90 Prozent der Bevölkerung leben völlig abgehängt von den grossen Städten und deren Infrastrukturen. Vielerorts gibt es keine Anbindung an den öffentlichen Verkehr. Wer dort lebt, ist angewiesen auf das Auto. Wenn die Regierung dann als Erstes die Benzinpreise erhöht, ist das ein fatales Signal. Die Menschen in den Provinzen haben das Gefühl, man hätte sie in Paris vergessen.
Sind wir in der Schweiz vor so einem Konflikt gefeit?
Ich denke schon. Wir leben ja in keinem Zentralstaat, wo alles von oben kommt. Zum anderen erweist sich unser umständliches System in vielen Fällen als stabilitätsfördernd, weil die Bürger auf jeder Ebene dreinreden können. So werden Politiker gehindert, voreilig allzu viele Beschlüsse zu treffen, weil ihnen dann ja ohnehin ein Referendum ins Haus steht.
Interview: Alexander Vitolic
Kurzbesprechung
Es hätte der historische Roman werden sollen, den sein Freund sich schon lange von ihm wünscht, verrät Charles Lewinsky. Über einen Schmuggler im Mittelalter, dem man die Zunge herauschnitt. Daraus wurde schliesslich die Geschichte eines sprechbehinderten, aber ruchlosen Täuschers, der im Gefängnis unter der Anleitung eines Pfarrers allmählich hinter der Maske des Schriftstellers verschwindet und bald in eine vielversprechende literarische Zukunft blickt.
Bei allen treffsicher gesetzten Spitzen gegen Kunst und Moral stechen in «Der Stotterer» die düster funkelnden Kurzgeschichten hervor, welche die Hauptfigur als Schreibübungen oder für einen Wettbewerb verfasst. Darin findet der routinierte Romancier Lewinsky in doppelter Hinsicht zu einer traumhaften Form, um in die Psyche seiner Figur einzutauchen: Es sind schaurige Stücke voller doppelter Böden, und man wünscht sich am Ende des Romans mehr davon. (vit.)
Charles Lewinsky, Der Stotterer. Diogenes-Verlag, Zürich, 2019. Ca. 30 Franken.