«Aufruhr in Europa» bewegt die Universität Zürich

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Die Headlines reichen momentan von «Europa lebt!» bis zu «Wenn die EU untergeht, wird keiner weinen». Zu diesem breiten Spektrum an Europa-Vorstellungen fand an der Universität Zürich eine Podiumsdiskussion statt.

«Die politischen Kräfte haben sich verschoben und die Meinungen zur Situation in Europa sind kontrovers», hält Anna-Lina Müller, Co-Organisatorin und Co-Regioleiterin von foraus Zürich fest. Im Nachgang der viel diskutierten und zum Teil überraschenden Wahlausgänge in Frankreich, Deutschland, Grossbritannien und in den Niederlanden macht es Sinn, die Situation Europas zu reflektieren. Knapp 300 Zuschauer sind an diesem Abend an die Universität Zürich gekommen, um Experten-Einschätzungen zur gegenwärtigen Lage des Kontinents zu erfahren.
Bevor hingegen die Klingen gekreuzt werden, gibt Cenni Najy, Senior Policy Fellow Europe foraus, dem Publikum einen Einblick in die politischen Veränderungen der letzt- und diesjährigen Wahlen: «In den letzten Jahren ist die Anzahl kleiner Parteien, die radikale Veränderungen wünschen, drastisch gestiegen. Genau diese kleinen Parteien sind jedoch schnell zu grossen Parteien geworden», so Najy. «Verschiedene Gründe führten zu vermehrtem Aufkommen von Unzufriedenheit und Apathie und somit zu fehlendem Vertrauen in die politischen Institutionen.» Dies sei beispielsweise im halbjährlich erhobenen Eurobarometer ersichtlich.

Bedeutung Europas umstritten
Auf der Basis dieser Aussagen eröffnet Anna Stünzi, Programmleiterin von foraus, die Podiumsdiskussion und fragt ihre Gäste, was Europa für sie bedeute. Für Flavia Kleiner, Co-Präsidentin der Operation Libero, steht fest: «Europa bedeutet für mich Demokratie, Freiheit, Rechtsstaat und Chancenvielfalt.»
«Für mich ist wichtig, dass Europa kein Nationengefängnis darstellt», fügt Jakob Tanner, emeritierter Professor für Geschichte der Neuzeit, an. Jakob Kellenberger, ehemaliger Chefunterhändler der Bilateralen I, bekräftigt die Aussagen und nennt die EU ein «erfolgreiches Friedensprojekt». Dem widerspricht Corinna Miazga, gewählte Bundestagsabgeordnete der AfD: «Europa ist nicht gleich EU.» Für sie sei Europa im Sinne Charles de Gaulles «ein Europa der Vaterländer». Dem ehemaligen französischen Staatspräsidenten de Gaulle war es in den 60er-Jahren wichtig, die nationalen Souveränitäten der einzelnen Länder zu wahren und auf supranationale Einigungsschritte – wie beispielsweise die EU – zu verzichten. Miazga selbst spricht sich für einen Rückschritt zum EWG aus, der im Vergleich zur EU, mit ihrer breiten Integrationsidee über viele Politikbereiche hinweg, lediglich eine gemeinsame Wirtschaftspolitik vorsieht. Miazga lässt sich nicht irritieren, als zirka 20 Studierende mit Trillerpfeifen und Buhrufen den Saal verlassen, als sie zu sprechen beginnt. «Leider bin ich das gewohnt, aber ich kann damit leben.»
Thomas Borer, ehemaliger Botschafter in Deutschland, ist es hingegen wichtig, «dass in Europa Toleranz und Meinungsvielfalt herrschen darf». Weniger gelassen sieht dies Tanner: «Ich bin bestürzt über die vielen Wähler, welche diesen völkischen Tenor unterstützen. Um Deutschland habe ich keine Angst, es soll einfach kein Gau-Land werden.»

Auch Kellenberger sieht das «Friedensprojekt Europa» nicht in Gefahr: «Einzig das Gelingen ist nicht mehr so selbstverständlich.» Borer findet in der seit einigen Jahren verstärkten Re-Politisierung nicht nur Negatives: «Die etablierten Parteien haben die aktuellen Probleme nicht zu lösen vermocht und deshalb ist Unmut gegenüber diesen entstanden.» Für grundlegende Veränderungen brauche es jedoch mehr als diese 15 bis 25 Prozent, meint er. Im Hinblick darauf ist es Kleiner wichtig, dass die Mitte-Parteien nun nicht auch «das AfD-Lied singen». Dies wirft sie den beiden Parteien CVP und FDP vor, welche die Deutungshoheit, die Framing-Macht an die SVP abgegeben hätten, wie beispielsweise im Wahlkampf 2015, als die SVP erfolgreich das Thema Migration medial zu bewirtschaften vermochte.

Pluralismus in Gefahr

Auf die Frage, welche Funktion die Operation Libero im Politiksystem der Schweiz habe, antwortet Kleiner: «Heutzutage wird sehr komplex politisiert. Ich sehe unsere Arbeit als Übersetzungsdienstleistung. Wir scheuen keinen Feindkontakt und versuchen auch Trolls im Netz zu bekämpfen.» Damit meint Kleiner wohl die Debatte um die Fake-Accounts auf den sozialen Medien, was unter anderem der AfD vorgeworfen wird. Hinter diesen Fake-Accounts steht keine natürlich Person. sie dienen als Netzwerkknoten für Meinungsmache. Populistische Parolen würden so im Netz gezielt verbreitet.

Tanner ist ein anderer Punkt der radikalen Parteien ein Dorn im Auge: «Sie haben einen Alleinvertretungsanspruch, im Sinne von ‹Nur wir vertreten das Volk› und das ist in meinen Augen antipluralistisch: Pluralismus ist das Betriebssystem der Demokratie.» In der Verfassung stehe im ersten Artikel, dass die Würde des Menschen unantastbar sei: «Dann kann man nicht sagen, man schiesse auf Flüchtlinge, die über die Grenze kommen.» Miazga gibt zu verstehen, dass sie es unfair findet, mit Aussagen ihrer Parteikollegen konfrontiert zu werden, von denen mindestens umstritten ist, ob sie überhaupt gemacht wurden. «So kann keine Diskussion entstehen, weil ich dann persönliche Statements auslegen müsste.» Sie interessiere vielmehr, weshalb die Podiumsteilnehmer zwar von der EU schwärmten, aber die Schweiz ihr nicht beitreten würde. Borer führt aus, dass es hierfür eine Zustimmung von Volk und Ständen brauche, «ich schätze die Zustimmung für so eine Frage auf zirka 20 bis 30 Prozent.» Miazga antwortet indes provokativ: «Wenn 80 Prozent gegen einen EU-Beitritt sind, dann sind sie gar nicht so weit von der AfD entfernt.» Zwar streitet sie nicht ab, dass deutsche Unternehmen von der EU profitieren würden, «aber nicht so der deutsche Bürger». Deswegen sei der Unmut über die EU und deren Pflichten, die eine Mitgliedschaft mit sich bringe, gross geworden.

Mehr oder weniger EU?

Tanner sieht die Lösung des starken Deutschland in Europa jedoch nicht in einem Rückschritt zum EWG, wie dies Miazga vorschlägt, sondern in gestärkten EU-Institutionen. Kellenberger befürwortet diese Aussage und sieht Macron als optimistischsten Befürworter dieser verstärkten europäischen Idee. Borer hingegen beurteilt die Visionen Macrons kritisch: «Es braucht auch Aktionen. Zuerst sollte Macron zu Hause Ordnung schaffen mit diversen Sozial- und Wirtschaftsreformen.» In der EU sieht Borer ausserdem ein Demokratiedefizit und fordert «mehr direkt-
demokratische Elemente durch die technologischen Möglichkeiten.»
«Probleme gibt es überall, wenn sich Menschen zu organisieren versuchen», meint hingegen Kleiner. Sie sieht das Problem in der Führungsriege der EU: Diese sei zu alt für wirkliche Reformen. Wie auch Tanner sieht sie dem Gestaltungswillen Macrons positiv entgegen. Miazga indes will lieber einen Schritt zurückgehen: «Mehr Europa bedeutet für mich weniger EU. Für mehr Respekt voreinander und gute, friedliche Nachbarschaft.»

Abschliessend lässt sich nüchtern festhalten, dass weder Einigkeit über Art der Problemstellungen der EU noch über die generelle Weichenstellung – hin zu mehr oder weniger EU in Europa – herrscht. Es bleibt also spannend. Wie Michael Stirnimann, Co-Organisator und Vorstandsmitglied des Fachvereins Polito, passend mitteilt, haben sich die Zuschauer nach dieser eifrigen Diskussion einen Apéro reichlich verdient, «um die neuen Ideen und interessanten Gedankenanstösse zu verdauen». (Nadine Golinelli*)

*Nadine Golinelli ist Vorstandsmitglied des Fachvereins Polito, der die Podiumsdiskussion «Aufruhr in Europa» in Zusammenarbeit mit foraus Zürich organisiert hat.