Von der Kirche vor die Fernseh-Kamera

Erstellt von Daniel J. Schüz |
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Stina Schwarzenbach ist als studierte Germanistin und Kommunikationsfachfrau eine Quereinsteigerin. Seit bald sechs Jahren hat die  50-Jährige, vierfache Mutter ihre Berufung in der reformierten Kirche Erlenbach gefunden. Nun wird sie national bekannt: als Pfarrerin beim «Wort zum Sonntag».

Nach dem Gottesdienst, wenn der Segen erteilt ist, die Menschen verabschiedet und die Gesangsbücher eingesammelt sind, verlässt sie die Kirche durch den hinteren Ausgang: Stina Schwarzenbach, 50 Jahre alt, eine beeindruckende Frau mit langem, dunkelgelocktem Haar, ist die reformierte Pfarrerin in Erlenbach. Und bald auch eine Predigerin für das ganze Land.

Nahe der Friedhofsmauer setzt sie sich auf eine Bank, schaut hinauf in den wolkenverhangenen Himmel, hinaus auf den bleigrauen See – und sie lässt die Ruhe wirken, die vom Wasser kommt: «Wir sind See-Menschen, Grenzgänger am Wasser, das trennt und verbindet – diese und die andere Welt.»

Ein geborenes See-Mädchen

See-Menschen leben und beten in See-Häusern. Das macht eine – wenn nicht göttliche, so doch durchaus bemerkenswerte – Fügung deutlich: Das Wohnhaus in Meilen, in dem das Mädchen Stina aufgewachsen ist, und das Gotteshaus in Erlenbach, in dem die Pfarrerin Schwarzenbach seit fünfeinhalb Jahren Gottes Wort verkündet, sind keine sechs Kilometer voneinander entfernt. Beide Häuser haben zwischen Seestrasse und Seeufer dieselbe Ausrichtung: Vorne beim Eingang lärmt der Verkehrsstrom, hinten, beim Garten und beim Friedhof, plätschern leise die Wellen.

Müsste sie heute die Predigt für ihre erste Fernsehsendung schreiben, was würde sie den Menschen im ganzen Land zu denken geben? Es kommt ihr der einsame Tod im Wald in den Sinn, der vor Monatsfrist medienwirksam inszeniert worden ist – eine Provokation, die durchaus zu einem Thema für «Das Wort zum Sonntag» hätte werden können: Ende September hat sich eine 64 Jahre alte Amerikanerin in ­einen futuristisch anmutenden, blau-weiss bemalten sargähnlichen Plastikcontainer sperren lassen. Sie drückte auf ­einen Knopf, worauf Stickstoff einströmte und das Leben dieser Frau beendete – vorsätzlich und vorzeitig.

Wenige Stunden zuvor hatte Bundesrätin Elisabeth Baume Schneider genau diesen Vorgang für illegal erklärt.

Der erste begleitete Freitod in der sogenannten Sarco-Kapsel macht weltweit Schlagzeilen und befeuert schweizweit – insbesondere auch an der Zürcher Goldküste – die politisch-juristische und theologisch-ethische Kontroverse um das Sterben auf Verlangen. Nach dem bizarren Exitus nahe der Landesgrenze im Kanton Schaffhausen reicht die Küsnachter Juristin und SVP-Nationalrätin Nina Fehr-Düsel eine Motion ein mit dem Ziel, den Einsatz dieser Todeskapsel zu verbieten.

Auch Stina Schwarzenbach ist bestürzt. Allein schon das Design des Sarco sei grotesk, findet die Theologin: «Das Ding sieht ja aus wie ein Chilbi-Gefährt!»

Man fragt sich, ob dieses bizarre Objekt, das an Freizeitvergnügen und Nervenkitzel erinnert, zugleich aber den Tod bringt, auch als zynische Parabel für die Spassgesellschaft gesehen werden kann – ein heikles Thema. Doch das schreckt die Erlenbacher Pfarrerin nicht ab – im Gegenteil: Sie erwägt, ihre skeptischen Gedanken zur Todeskapsel in der Pfarrkolumne des «Küsnachters» kundzutun; denn fürs Fernsehen passt das Timing nicht mehr: Bis zum 16. November, wenn Stina Schwarzenbach zum ersten Mal als TV-Theologin antritt, wird der Sarco-Skandal Schnee von gestern sein.

Neues fünfköpfiges Team

Vor siebzig Jahren ist das «Wort zum Sonntag»  aus der Taufe gehoben worden. Alle zwei Jahre wechselt das fünfköpfige Team. Unter drei Männern und zwei Frauen, die seit letztem Samstag der Nation zu denken geben, repräsentiert Stina Schwarzenbach zusammen mit ihrem Kollegen Pfarrer Reto Studer aus dem Kanton Aargau die reformierte Landeskirche. Zur Vorbereitung auf diese Aufgabe gehört ein Medientraining bei SRF, das Stina Schwarzenbach vor wenigen Wochen zusammen mit ihren Kolleginnen und Kollegen absolviert hat. Im Gegensatz etwa zu Mitgliedern des Bundesrates, die Abstimmungsvorlagen empfehlen, oder Moderatoren, die magistrale Botschaften erläutern, lesen Pfarrpersonen, die sich vor die Kamera stellen, ihre Sonntagsworte nicht vom Teleprompter ab: «Wir memorieren unsere Texte», sagt Stina Schwarzenbach. «Und wir haben geübt, uns an Stichworten zu orientieren.»

Das «Wort» ist – nach der Hauptausgabe der Tagesschau – das zweitälteste Sendegefäss des Schweizer Fernsehens. Ihm gebührt, zwischen Tagesschau und Unterhaltungsshow, der quotenträchtigste Sendeplatz. Rund 300 000 Menschen sitzen an den Samstagabenden vor den Fernsehgeräten, wenn die Pfarrerin «aktuelle Gedanken aus christlicher christlicher Sicht» verkündet – so der Untertitel dieses Formats. Während exakt dreier Minuten und zweiundvierzig Sekunden wird die Sendung jeweils am Tag zuvor aufgezeichnet. Und am Tag danach wechselt Schwarzenbach dann vom TV-Studio in ihre Kirche. Da hat sie für den Gottesdienst viel mehr Zeit, aber in den Bankreihen lauschen bestenfalls noch ein paar Dutzend Kirchgänger andächtig auf ihre Worte. «Dafür sind diese Menschen ein persönliches Gegenüber, dem ich in die Augen schauen kann. Und sie stehen nicht zwischendurch auf und holen sich ein Bier im Kühlschrank, während der Fernseher läuft.»

Vor drei Generationen gab es bei den Schwarzenbachs bereits einmal einen Pfarrer, und die Grossmutter väterlicherseits war von der Hoffnung beseelt, wenigstens einer ihrer fünf Söhne möge Pfarrer werden, was allerdings ein frommer Wunsch geblieben ist – zumindest in dieser Generation: Statt der Theologie verschreibt der Vater sich der Germanistik und wird Rektor der Kantonsschule Wetzikon, er heiratet eine Lehrerin und zieht mit ihr wiederum fünf Kinder auf – unter ihnen Stina, die zunächst ebenfalls Germanistik studiert und mit 28 Jahren eine Dissertation über deutsche Übersetzungen von italienischen Barockromanen vorlegt.

Nach dem Doktorat arbeitet sie als Kommunikationsberaterin in der renommierten PR-Agentur Farner, von wo sie in die Versicherungsbranche wechselt, um auch einmal eine ihr ganz fremde Arbeitswelt kennenzulernen – ohne allerdings dort ihr Glück zu finden: Die Lobby-Arbeit in der Hochfinanz, das spürt sie je länger, desto deutlicher, ist nicht ihre Welt. Immer wieder fühlt sie sich «zur falschen Zeit am falschen Ort», resümiert sie – und denkt zum Beispiel an das Terror-Jahr 2001: «Die Attentate gegen das World Trade Center in New York haben auch die Kommunikationsbranche erschüttert und vorübergehend in Schieflage gebracht.»

Als Schwarzenbach ihren heutigen Ehemann kennenlernt, sind Theologie und Pfarramt noch gar kein Thema. Als Literaturstudentin jobbte sie abends im Opernhaus, er war Jus-Student. Erst einige Jahre später, als sie sich Gedanken über die geplante Hochzeit machen, taucht diese Idee völlig unvermutet auf.  Das Paar bittet eine Freundin aus Jugendchorzeiten, die inzwischen Pfarrerin ist, die Trauung zu übernehmen. Die Gespräche mit ihr geben ­einen näheren Einblick in diesen Beruf und bringen Stina Schwarzenbach auf die Idee, dass das auch etwas für sie sein könnte. Zumal die Musik, die ihr als Chorsängerin und Geigerin sehr am Herzen liegt, eine wichtige Rolle spielt.

Und so wird der Schritt ins Leben als Ehefrau auch einer in Richtung eines neuen Berufes. Die Kirche als Lebensaufgabe – das ist keine Saulus-Paulus-Bekehrung, sondern schlicht die deutliche und verblüffende Erkenntnis, «dass dies der Beruf ist, in dem ich am meisten von dem einbringen darf, was ich gerne tue und kann». Sie merkt schnell, dass das eine Idee ist, die sie ernst nehmen muss, und mit der Zeit reift der Entscheid, es einfach zu probieren und ein zweites Studium anzupacken: die Theologie. Daneben arbeitet sie unter anderem auch als Deutschlehrerin an der Kantonsschule Stadelhofen. Unterdessen hat sie vier Kinder zur Welt gebracht, drei Töchter und einen Sohn im Teenager-Alter.

Glaube und feministische Theologie

Sollte eine angehende, erst recht eine amtierende Pfarrperson nicht zumindest an den Herrgott glauben? «In dieser Formulierung nicht», meint Stina Schwarzenbach mit Verve. Das Wort «Herrgott» vermittle ein patriarchales Gottesbild, das nicht ihres sei. Die Vielfalt der biblischen Gottesbilder ist ihr theologisch ebenso wichtig wie die Errungenschaften der feministischen Theologie.

Dann ist sie also auch gar nicht fromm? «Nein, fromm bin ich nicht!» Sondern? «Gläubig. Ich glaube an das Gute im Menschen. Und daran, dass Gott ansprechbar ist. Mich überzeugt die christliche Botschaft, der Glaube ist für mich eine Lebensgrundlage, eine Art Urvertrauen, das mich einfach trägt.»

Stina Schwarzenbach tritt für eine moderne, offene Theologie ein. Überlieferte Konventionen stellt sie ebenso in Frage wie sie unangebrachte Privilegien ablehnt. Mit dem Wunsch, ihrer Familie zuliebe den aktuellen Wohnsitz in der Stadt Zürich zu behalten anstatt ins Erlenbacher Pfarrhaus zu ziehen, hat sie nicht nur den Präsidenten der Kirchenpflege René Schwarzenbach – «wir sind weder verwandt noch verschwägert» –, sondern auch den einen oder anderen Traditionalisten im Dorf gegen sich aufgebracht. Allerdings erfährt sie auch von vielen Seiten Verständnis, denn ein Grossteil der Gemeindeglieder weiss gar nicht, dass diese alte Tradition, die früher zu verschiedenen Berufen gehört hat, beim Pfarrberuf noch immer Gültigkeit hat.

Die Kontroverse ist an der Gemeindeversammlung – letztlich zugunsten der Pfarrerin – geklärt worden und derzeit ohnehin obsolet: Das Pfarrhaus wird umgebaut, und danach zieht der neue Pfarrkollege ein.

Vereinzelte kritische Stimmen gab es auch in Bezug auf die kirchliche Gastfreundschaft für die ukrainischen Flüchtlinge, die derzeit im Heim am See in ­Küsnacht einquartiert sind. Stina Schwarzenbach hat sich dafür eingesetzt, dass die Kirchenpflege Erlenbach diesen für ihren wöchentlichen Gottesdienst die reformierte Kirche zur Verfügung stellt, obwohl der ukrainische Pastor kein reformierter Pfarrer ist, sondern freikirchlich geprägt.  Die Pfarrerin hat nur indirekt davon gehört, dass sich Leute daran stören, und das ärgert sie: «Bei uns kommen sie nicht mehr in die Kirche», argumentiert Stina Schwarzenbach. «Aber wenn andere unserer Hilfe bedürfen, wird anonym hintenrum lamentiert.» Die Ukrainerinnen und Ukrainer seien vor einem schrecklichen Krieg zu uns geflohen, und in einer solchen Situation bekomme der  Glaube für viele eine neue Bedeutung. Dazu gehöre auch ein würdiger Raum, um Gottesdienste zu feiern. «Das fällt für mich in diesem Moment mehr ins Gewicht als religiöser Stil, zumal einige von ihnen immer mal wieder auch unseren reformierten Gottesdienst besuchen.»

Tod im Wald

Die letzte Woche im September steht im Zeichen der Rad-WM in und um die Stadt Zürich. Am Donnerstag, 27. September, genau vier Wochen und vier Tage nach dem makaber inszenierten Freitod in der Sarco-Kapsel, stirbt in einem anderen Wald – nahe der Schmalzgrueb ob Küsnacht – die 18 Jahre junge Radsportlerin Muriel Furrer aus Egg unter bis heute ungeklärten, aber nicht minder skandalösen Umständen: Es regnet in Strömen, die Abfahrt ist steil, die Kurve unübersichtlich – und keiner ist da, der die Strecke sichert, niemand, der der sterbenden Athletin beisteht.

Eine Woche später nimmt Stina Schwarzenbach in der Pfarrkolumne des «Küsnachter» Stellung zu diesem Tod im Wald. Man habe wenig erfahren über die junge Sportlerin, schreibt sie, aber eines sei – ungewöhnlich genug – mehrfach erwähnt worden: Der Glaube hat in Muriels Leben eine Rolle gespielt.

Stina Schwarzenbach will ihre «Wort zum Sonntag»-Premiere am 16. November nicht einem weiteren Tod im Wald widmen. «Es gibt definitiv bessere Themen», sagt sie, «über die man nachdenken kann.»

 

Stina Schwarzenbach moderiert ihre erste «Wort zum Sonntag»-Sendung am 16. November, 20 Uhr, SRF 1.