Verliebte Wirtin beendet Käse-Ära

Erstellt von Daniel J. Schüz  |
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Weltstars wie Pelé oder Roger Federer schätzten das beste Fondue diesseits der Alpen. Doch ab Ende März gibt es hier keinen Käse mehr: Die Wirtin Denise Crettol schliesst ihre «Cave Valaisanne Chez Crettol» in Küsnacht – für immer.

Der mutmasslich kostbarste Sicherungskasten der Welt hängt in einer Küsnachter Gaststube über dem runden Tisch – so hoch, dass der zweifellos berühmteste Sportler aller Zeiten «auf einen Stuhl steigen musste, um seinen Namen dort drauf zu kritzeln», erinnert sich Denise Crettol an die Klettertour ihres Stammgastes ­Edson Arantes do Nascimento, der als Pelé zur Fussball-Legende geworden war und vor drei Wochen in São Paolo gestorben ist. «Er kam jedes Jahr, fünfzehn Jahre lang», fährt die Wirtin der «Cave Valaisanne Chez Crettol» fort und schmunzelt. «Ein grossartiger Mensch, liebenswürdig und bescheiden, aber kein sehr gross gewachsener Mann. Meistens hat er das Raclette als Vorspeise bestellt und dann noch einen schönen Steinbutt vom Grill verzehrt!»

Neben Pelés Schriftzug zieren die Autogramme von Roger Federer, Sebastian Vettel und Sepp Blatter den kleinen Sicherungskasten, womit der Tennis-Crack, der Formel-1-Weltmeister und der frühere Fifa-Präsident sich als Gourmets zu erkennen geben, die Käse in allen erdenklichen Variationen zu schätzen wissen – als ­Ra­clette im Cheminée geschmolzen, als Fondue im Caquelon gerührt, in der klassischen Moitié-Moitié-Mischung, mit Knoblauch oder Roquefort gewürzt, veredelt mit Champignons oder Champa­gner und in jedem Fall mit einem Schuss Schlagrahm. So erstaunt es denn auch nicht, dass der renommierte Restaurantführer Gault-Millau an der Florastrasse 22 in Küsnacht eine «Walliser Enklave» ausmacht, die mit dem «besten Fondue von Zürich» aufwartet.

Noch siebzig Tage

Allerdings sind die Tage im «Chez Crettol» gezählt: Noch siebzig Mal schlafen – dann ist Feierabend. Endgültig. Am 31. März wird der letzte Käselaib im Cheminée brutzeln, das letzte Stück Brot durch die Käsesuppe gedreht. «Ich habe mich schwer getan mit dem Entschluss», seufzt Denise Crettol. «Gewiss: Meine Wurzeln sind im Wallis; aber in Küsnacht bin ich aufgewachsen, hier habe ich mein Leben verbracht, das Dorf, der See und auch das Küsnachter Tobel sind mir zur Heimat geworden.»

Mit unternehmerischer Umsicht und kulinarischem Feingefühl führt sie seit fast zwei Jahrzehnten ein Spezialitätenrestaurant, das seinesgleichen sucht: Wer hier einkehrt, fragt sich erst einmal, ob er sich in der Adresse geirrt hat: Zu Hunderten machen allerlei Objekte das Lokal zu einer Mischung aus Kunstgalerie und ­Raritätenkabinett. Die Wände zugepflastert mit Fotos und Gemälden. Das Cheminée umzingelt von Chimären, Skulpturen menschlich-tierischer Mischwesen. Regale und Vitrinen beladen mit symbolträchtigen Souvenirs. Mit Witz und Lust verbindet das geordnete Chaos die vielen Geschichten, die erst noch erzählt werden wollen.

Da hängt zum Beispiel der hölzerne Deckel eines irischen Whiskey-Fasses an der Wand; eingraviert der Name «Annemarie Crettol». Denises Mutter hatte Irland über alles lieben gelernt. Darüber der Schriftzug «Dingle».

Die irische Halbinsel Dingle im äussersten Südwesten des Landes ist an der Küste des Atlantischen Ozeans zur dritten Heimat der Crettols geworden. Sie hat ­einerseits als Herkunft eines besonders würzigen Whiskeys Weltruhm erlangt, andererseits auch durch Fungie, den berühmtesten aller wilden Delfine. Mit seinen Kapriolen begeisterte Fungie in der Bucht von Dingle 38 Jahre lang die Einwohner und Touristen; als «ältester bekannter frei lebender Delfin» war er sogar dem «Guinness Buch der Rekorde» einen Eintrag wert. «Ich erinnere mich noch gut an den freundlichen Delfin», schmunzelt Denise Crettol und bedauert, dass Fungie sich seit zwei Jahren nicht mehr hat blicken lassen: «Er hat entweder die Bucht verlassen – oder er ist gestorben.»

Oder – anderes Beispiel, aber gleiche Insel – das Gemälde, auf dem drei identische Männerfiguren einen sattgrünen ­Rasen trimmen und zugleich über blutrote Stränge mit einem grossen Herz-­Organ verbunden sind. «Das hat Jérémie gemalt», erklärt Denise, deren Bruder in Erlenbach ein Fischrestaurant betreibt und sich als Maler und Bildhauer einen Namen gemacht hat. «Das Bild ist eine Hommage an unseren herzkranken Vater, der Irland von Herzen geliebt hat – wohl auch, weil die Iren ähnlich bodenständig und liebenswürdig sind wie die Walliser!»

Vor zehn Jahren ist die Mutter gestorben, vor sechs Jahren der Vater. «Alles, was ich erreicht habe, verdanke ich meinen Eltern», sagt Denise. Und erzählt die Geschichte von Georges und Annemarie.

Als Baby an die Goldküste

Zwischen deren Heimatgemeinden, der Touristenhochburg Saas Fee und dem Winzerdorf Mollens, liegen das Rhônetal, die Sprachgrenze und sechzig kurvenreiche Kilometer. «Mein Vater führte eine Bar in Saas Fee, dort hat er meine Mutter ­kennengelernt», erzählt Denise. «Allerdings hielt sich die Begeisterung des konservativen Grossvaters in Grenzen, als Georges, der zuvor schon einmal verheiratet gewesen war, um Annemaries Hand anhielt.»

Die Familie wurde dennoch gegründet, Sohn Jérémie kam zur Welt, fünf Jahre später folgte Denise. Sie war noch ein Baby, gerade mal neun Monate alt, als die Eltern ihr Glück in der «Üsserschwiz» suchten und es an der Goldküste fanden. Im Herzen von Küsnacht übernahm das Wirtepaar den «Schweizerhof» und gestaltete die Traditionsbeiz zum «Walliser Keller» um, zur «Cave Valaisanne».

Für Jérémie und Denise war es nie eine Frage, dass auch sie im Gastgewerbe Fuss fassen würden: Während der ältere Bruder das «Fischstübli» in Erlenbach übernahm, trat Denise «Chez Crettol» in die Fussstapfen der Eltern. Zuvor hatte sie im Zürcher «Splügenschloss» das Koch-Handwerk erlernt. Und als sie wieder einmal die grüne Insel besuchte und in Dublin zufällig bei Patrick Guilbauds legendärem, mit zwei Michelin-Sternen gekrönten Gourmet-Tempel vorbeikam, ging sie kurz entschlossen hinein und erkundigte sich, ob eine Stelle in der Küche frei sei. «Wann könntest du denn anfangen?», wollte Guilbaud wissen. «Jetzt.» «Gut, komm in zwei Stunden wieder!»

So wurde Denise Crettol in die Welt der Haute Cuisine aufgenommen.

Jetzt also wird sie ihr kleines Walliser Gastro-Imperium verlassen und das blühende Geschäft mit gebratenen Käselaiben und kreativen Fondue-Variationen aufgeben.

Warum? Ist es die Personalnot im Gastgewerbe? Oder die Pacht? Der Vertrag, so wurde gemunkelt, laufe demnächst aus ...

Nein, das sei es nicht, wehrt Denise Crettol ab, «ganz und gar nicht. Die Besitzer der Liegenschaft würden mich noch so gerne behalten und den Vertrag verlängern ...» Was ist es dann? Sie lächelt schüchtern und sagt leise: «Es ist die Liebe – ich werde zu Bernard ins Waadtland ziehen, nach Ollon in die Weinberge rund um Aigle.»

Dort, mitten im berühmten Weinbaugebiet Chablais am Genfersee, wo die Sonne den besten Wein reifen lässt, pflegt Bernard Cavé seine Reben, vertreibt deren Weine und will demnächst mit Denise eine kleine Gastwirtschaft eröffnen. Regelmässig fährt er nach Küsnacht und kehrt im «Chez Crettol» ein – aber seit einiger Zeit hat es ihm nicht nur die Speisekarte angetan. Die Köchin gefällt ihm noch besser. «Wir sassen hier, am runden Tisch», erinnert sich Denise Crettol mit leuchtenden Augen an die entscheidende Begegnung. «Wir redeten viel – und wie von selbst fand seine Hand plötzlich meine. So hat alles angefangen ...»

Mit dem Frühling wagen die beiden den Start in ein neues Leben. Nach mehr als vierzig Jahren kehrt Denise zurück – dorthin, wo ihre Eltern aufgewachsen sind. Oder zumindest in die Nähe. Es ist, als schliesse sich der Kreis.

Noch weiss Denise nicht, welche der vielen Bilder, Souvenirs und Skulpturen sie in die neue Heimat begleiten werden. Nur eines steht fest: Der Sicherungskasten wird abgeschraubt. Pelé muss mit.