Zum Auftakt der Vorweihnachtszeit werden die «Golden Twigs» in Küsnacht nicht nur die Seestrasse beleuchten. Tina Turners Weihnachtsgeschenk an die Gemeinde wurde um fünf Exemplare erweitert und erinnert im ganzen Dorf an die im Mai dieses Jahres verstorbene Künstlerin.
Für Rolf de Pietro war der grosse Moment längst alljährliche Routine – unspektakulär, vollautomatisch, computergesteuert: Als gestern Abend die Dämmerung hereinbrach, sass der Vorsitzende der Geschäftsleitung der Werke am Zürichsee (WaZ) vor dem Bildschirm und nahm zufrieden zur Kenntnis, dass alles bestens funktionierte: Pünktlich um 16.50 Uhr waren die Lichter angegangen.
Für alle anderen – den Samichlaus und all die vielen Kinder, für die Raclette-Geniesser, Glühwein-Schlürferinnen und die Betreiber der 80 Verkaufsstände – ist mit der Eröffnung des Küsnachter Adventsmarktes auf dem Dorfplatz die vorweihnächtliche Feierlaune eingezogen.
Denjenigen, die mit offenen Augen durchs Dorf laufen, gehen noch ganz andere Lichter auf: Ihnen ist aufgefallen, dass die «Golden Twigs», diese ganz besondere Weihnachtsbeleuchtung, vor zehn Jahren von der verstorbenen Rock-Ikone Tina Turner der Wahlheimat Küsnacht als Geschenk vermacht, nicht mehr nur an den Kandelabern entlang der Seestrasse hängen. Man kann sie jetzt auch in der ganzen Gemeinde entdecken:
Fünf neue Exemplare
Beim Itschnacher Kreisel wurde eines der kreisrunden, schneeweissen und in der Dunkelheit golden strahlenden Kunstwerke unterm Giebel eines kleinen Holzgebäudes montiert, direkt unter dem überdimensionierten Uhrturm. Ein anderes leuchtet vom Fenster im ersten Stock des Gemeindehauses auf den Dorfplatz herab. Gleich daneben strahlt das dritte aus dem Schaufenster des EW-Ladens. Das vierte klebt gut sichtbar an der Glasfassade der Werke am Zürichsee. Im selben Gebäude hängt der schönste Golden Twig an der Wand im Empfangsraum, mittendrin eine schwarze Vinyl-Schallplatte: «Simply The Best», das Album mit den «einfach besten» Songs der Wahlküsnachterin. «Dieser Twig», sagt WaZ-Chef de Pietro, «ist der vorerst einzige, der bestehen bleibt und über die Weihnachtszeit hinaus leuchten soll.»
So einfach, wie es aussieht, sei die Montage der neuen Twigs allerdings nicht gewesen, erläutert de Pietro. «Zum Glück haben wir mit Thomas Wyder einen Mann im Betrieb, der besondere Herausforderungen besonders liebt – und bis anhin noch jedes Problem lösen konnte.» Das Problem, erklärt Wyder, sei der Umstand gewesen, dass «jeder Twig eine andere Befestigung erforderte, während die alten auf beiden Seiten eines Kandelabers ganz einfach aneinander fixiert werden konnten und natürlich die Spezialanfertigung mit der grossen Schallplatte im Zentrum».
De Pietro und manche seiner Mitarbeitenden erinnern sich gut und gerne an das Schlösschen Alonquin, das Tina Turner und ihr späterer Ehemann Erwin Bach vor einem Vierteljahrhundert als Mieter bezogen hatten. «Sie hat den Werken auch einmal einen persönlichen Brief geschrieben», erinnert sich de Pietro. «Darin hat sie sich unter anderem für die regelmässige zuverlässige Kontrolle/Wartung ihres Gas-Cheminées bedankt.»
Rolf de Pietro ist denn auch der Vater der Idee, Tina Turners goldene Zweige über die Seestrasse hinauswachsen zu lassen. Ganz am Anfang war es allerdings ein Floh, den die Sängerin dem Gemeindepräsidenten Markus Ernst ins Ohr gesetzt hatte – und das ist schon zehn Jahre her ...
2013 war ein Glücksjahr
2013 war wohl eines der glücklichsten, wenn nicht das glücklichste Jahr im Leben des Weltstars. Im Frühling schleuderte Tina Turner eine Champagnerflasche gegen das Bug des neuen Seerettungsbootes und taufte das Schiff – wenig überraschend – auf den Namen «Tina». Im Sommer bestieg sie mit ihrem Erwin einen Nachen und zelebrierte auf dem See ein buddhistisches Hochzeitsritual. Sie gab ihren US-Pass ab und erlangte das Schweizer Bürgerrecht. Wenig später gelangte sie mit einem Vorschlag an den Gemeindepräsidenten.
«Sie gab zu verstehen, wie wohl sie sich bei uns fühlte», erinnert sich Markus Ernst. «Und sie wollte sich bedanken – dafür, dass sie bei uns ein normales, zurückgezogenes Leben führen konnte, dass sie sich – von Reportern unbehelligt und von Stalkern unbelästigt – frei bewegen konnte.» Wenn sie im Jumbo-Markt oder im Delikatessenladen einkaufte, wurde der Weltstar mit einem freundlichen «Grüezi Frau Turner» begrüsst – und dann wandte sich die Kassierin mit demselben Lächeln der nächsten Kundin zu. Weil die Seestrasse – Tina Turners Wohnadresse – bis anhin auch in der Weihnachtszeit von schmucklosen Strassenlampen beleuchtet wurde, gab sie die «Golden Twigs» in Auftrag: eine Strassenbeleuchtung, bestehend aus ringförmig angeordneten Zweigen, die einerseits an den James-Bond-Titelsong «Golden Eyes» erinnern sollten, mit dem sie 1995 einen ihrer grössten Erfolge feierte, und andererseits mit wild und opulent wuchernden Zweigen wohl auch an ihre eigene unbändige Haarpracht. Auf drei Kilometern Länge, von Erlenbach bis Zollikon, sollten 80 dieser Kunstwerke die Küsnachter Seestrasse ausleuchten und die Menschen auf die Weihnachtszeit einstimmen.
Offiziell sind die Kosten für das Projekt nie beziffert worden; Schätzungen belaufen sich auf rund 200 000 Franken für die Anschaffung und rund 30 000 Franken für Unterhalt und Betrieb eines Geschenkes, das am 26. November 2014 zum ersten Mal aufleuchtete. Es war, der Zufall wollte es so, Tina Turners 75. Geburtstag. Seit gestern erglühen die Golden Twigs zum zehnten Mal – und zum ersten Mal ohne Tina Turner.
Am 24. Mai dieses Jahres erschütterte die Nachricht vom Tod der Rock-Legende das Dorf und die übrige Welt. Unter dem Eindruck der lokalen und der globalen Betroffenheit wandte sich Gemeindepräsident Markus Ernst an Rolf de Pietro: «Wir sollten ein Zeichen – und die Lichter für Tina leuchten lassen, direkt vor ihrem Haus.»
So kam es, dass – zum Gedenken an die ebenso berühmte wie beliebte Bürgerin – die Küsnachter Weihnachtsbeleuchtung schon im Mai aufleuchtete.
Doch für Rolf de Pietro war es damit nicht getan; ein spontaner Gedanke war rasch zum Projekt herangewachsen – und so griff der Chef der Werke am Zürichsee zum Telefon und wählte die Nummer des Gemeindepräsidenten. «Markus, ich hab da so eine Idee», sagte de Pietro. «Es geht um die Weihnachtsbeleuchtung – um die Golden Twigs ...»
Die Frage, ob es wohl bei den fünf leuchtenden Goldzweigen bleibt, die mittlerweile den Weg von der Seestrasse nach Itschnach, zum Dorfplatz und bis an die Gemeindegrenze beleuchten, lässt Markus Ernst vorerst noch ebenso offen wie jene andere Frage, die er aus der Bevölkerung immer wieder zu hören bekommt: Wann bekommt Küsnacht eine Tina-Turner-Strasse? Und wo steht dereinst ihr Denkmal auf dem Sockel?
«Das wird alles noch entschieden», gibt sich Markus Ernst bedeckt. «Zu gegebener Zeit ...»