Stressfreies Fleisch erobert Zürich

Erstellt von Daniel J. Schüz  |
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Nils Müller, Biobauer auf der Forch und Pionier der Weidetötung, hat in Zürich eine einzigartige Metzgerei eröffnet: Zum ersten Mal wird in der Stadt das Fleisch von Tieren verkauft, die ihr Leben ohne Transport-Stress und Schlachthof-Panik gelassen haben.

Wie die Zeiten sich ändern: Ein halbes Jahrhundert lang galt der «Stüssihof» als Inbegriff für schmuddelige Pornofilme – und manch einer, der das ehemalige Sex-Kino im Herzen des Stadtzürcher «Dörfli» aufsuchte, hatte dabei kein besonders gutes Gewissen. Nackte Haut gibt es auf der Stüssihofstatt zwar schon seit zehn Jahren nicht mehr zu sehen. Dafür in einer neu eröffneten Metzgerei jede Menge Frischfleisch zu kaufen. Denn wer – bei aller Liebe zum Tier – auf ein saftiges Entrecote nicht verzichten mag, kann sein Gewissen beruhigen: Er weiss, dass das Rind, dessen Fleisch er hier kauft, ein gutes Leben gehabt hat. Und einen stressfreien Tod.

«Zum Chalte Brunne»: Der Name der Metzgerei weckt weder die Assoziation mit Fleisch noch mit Wurst; dennoch erzählt er eine Geschichte, die vor dreizehn Jahren begonnen und jetzt ein vorläufiges Ende gefunden hat.

Hofgründung «Zur Chalte Hose»

Damals hatten der Biobauer Nils Müller und seine Frau Claudia Wanger ein heruntergewirtschaftetes Gehöft auf der Forch übernommen und gründlich renoviert. Lediglich eine alte Hose, die wie eine Fahne über dem Dach flatterte, ist bis heute erhalten geblieben – sie hat dem Hof den Namen «Zur Chalte Hose» eingetragen.

Von Anfang an legte das Paar den Fokus auf nachhaltige Landwirtschaft – und vor allem auf das Wohl der Tiere. Insbesondere die letzte Lebensphase, wenn die Black-Angus-Rinder zum Schlachthof ­gekarrt werden müssen, ist mit purem Stress und heller Todespanik verbunden.

Dank seines Jagdpatents erstritt Müller sich das Recht, seine Tiere mit einem Schuss in die Stirn selbst zu töten – und zwar genau da, wo sie sich ein kurzes Leben lang wohl gefühlt hatten: auf der Weide, umgeben von ihren Artgenossen. So kam es 2014 zur ersten Weidetötung. «Der Bauer, der seine Tiere erschiesst» machte europaweit Schlagzeilen – und setzte die Behörden weiter unter Druck: 2018 wurden erstmals Hoftötungen bewilligt. Und vor exakt vier Jahren, am 27. Mai 2020, hiess der Bundesrat Hof- und Weidetötungen gut; das entsprechende Bundesgesetz wurde auf den 1. Juli desselben Jahres in Kraft gesetzt. Damit wart der Durchbruch geschafft. Nils und Claudia feierten diesen Erfolg mit einem aufwendig gestalteten, prächtig illustrierten Buch: «Zum Sterben schön» ist ein Vermächtnis des Respekts vor dem Leben.

Der Hof wächst weiter

Darüber hinaus erweiterten sie den Fleischhandel durch ein spannendes gastronomisches Konzept: Jeweils am letzten Dienstag des Monats laden sie zur Tavolata in die «Chalte Hose» – und dort wird dann nach Herzenslust geschlemmt.

Vor Jahresfrist haben Nils und Claudia ein kleines «Schlachthüsli» im Weiler Wangen erworben und technisch auf den neuesten Stand gebracht: Wanger’s Landmetzg ermöglicht es weiteren Bauernbetrieben, ihre Tiere auf dem Hof per Bolzenschuss zu töten und innerhalb der vorgeschriebenen Frist fachgerecht zur zerlegen.

«Inzwischen», freut sich Pionier Müller, «haben rund 300 Viehwirtschaftsbetriebe im ganzen Land auf die schonende Methode der Hoftötung umgestellt – zehn von ihnen in unserem Einzugsbereich rund um den Pfannenstiel.» Damit ist Wanger’s Landmetzg so weit ausgelastet, dass ein rentabler Betrieb durch Störmetzger gewährleistet ist. Nils Müller berät und unterstützt seine Kollegen bei den behördlichen Bewilligungsverfahren ebenso wie beim konkreten Prozess der Tötung auf dem Hof.

In aller Regel bringen die Viehzüchter das Fleisch ihrer schonend getöteten Tiere über den Hofladen unter die Leute, denn der preisliche Unterschied zwischen industriellen Schlachthofprodukten und achtsam produziertem Hof- oder Weidetötungsfleisch ist noch immer so beträchtlich, dass kaum ein Grossverteiler sich auf dieses Geschäft einlassen mag.

Das änderte sich grundlegend, als im Niederdorf die Metzgerei Zgraggen bei der Stüssihofstatt dem allgemeinen Metzgereisterben zum Opfer fiel. «Mit der städtischen Metzgerei können wir preislich schon viel besser konkurrieren», freut sich Müller.

Nils Müller und Claudia Wanger nutzten die Gunst der Stunde: Sie sahen in dieser Option nicht nur eine Möglichkeit, das Tierwohl-Fleisch jetzt auch in der Stadt anzubieten; sie erkannten darin auch eine Chance, weiter ins gastronomische Geschäft vorzustossen: Ein Take-away-Angebot sollte den Appetit der Kunden anregen, damit sie sich mit einem warmen Hamburger auf den kalten Brunnen setzen können.

Zusammenschluss der Angebote

Dabei dachten sie an ihre besten Kunden, die zugleich auch sehr gute Freunde sind: Stefan und Zeynep Jud führen in Zumikon die Edelpizzeria «Chüele Brunne» – und selbstverständlich stammen sämtliche fleischlichen Zutaten auf dem Pizzateig aus der «Chalte Hose».

So schloss sich das Landwirtepaar vom Bauernhof «Zur Chalte Hose» mit den Gastwirtepaar von der Pizzeria «Zum Chüele Brunne» zusammen: Das Quartett gründete eine Aktiengesellschaft, die sich bei der städtischen Liegenschaftsverwaltung als Mieterin für die verwaiste Metzgerei bewarb. Mit dem Erfolg, dass vergangene Woche in Zürich die erste städtische Metzgerei eröffnet wurde, die ausschliesslich anständig produziertes Fleisch verkauft. Und ein hübscher Zufall führte mit fast schon zwingender Logik zum Namen dieser Metzgerei: Aus der «Chalte Hose» und dem «Chüele Brunne» konnte ja nur die Metzgerei «Zum Chalte Brunne» entstehen – zumal das Wasser im Stüssi-Brunnen zwischen dem ehemaligen Sex-Kino und der neuen Metzgerei tatsächlich angenehm kühl plätschert.

Und die vollbärtige Gestalt, die auf ihrem Sockel hoch über dem Brunnen das Treiben der Menschen auf der Stüssihof­statt überblickt, kann ja wohl nur der Bürgermeister Rudolf Stüssi sein, der vor 600 Jahren die Geschicke der Stadt Zürich lenkte.

Und was sieht er dort unten?

Stüssi mit dem bunten Federbusch auf dem Haupt freut sich, dass mit alt Stadtpräsident Elmar Ledergerber einer seiner illustresten Nachfolger zur Stüssihofstatt gekommen ist. Ihm zu Ehren hat er sich wohl seine bunteste Mütze auf den Kopf gesetzt. Und seinen Freunden zu Ehren freut er sich, dass an diesem Tag die anständigste Metzgerei des Landes in Zürich eröffnet worden ist – «mit gesundem Fleisch in unserem gesunden Dörfli».

Für Nils Müller ist die Metzgerei «Zum Chalte Brunne» mehr als nur ein Meilenstein: «Es hat sich der erste von zwei Kreisläufen geschlossen», fasst er zusammen. «Der erste Kreis läuft verbindet uns auf dem Hof – er spielt sich von der Geburt eines Tieres bis zu seinem Tod ab, vom Hofladen bis zur Gaststube. Und der grosse Kreislauf wird dereinst das Land verbinden – dann, wenn wir nicht mehr darauf angewiesen sein, lebendige Tiere in Lastwagen zum Schlachthof zu transportieren.»