Mit einem lachenden und einem weinenden Auge

Erstellt von Daniel J. Schüz |
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Wenn Regina Steiger Ende Oktober ihren Bastelladen an der Bahnhofstrasse schliesst, verliert das Küsnachter Kleingewerbe ein bunt schillerndes Stück Seele. Aber jenseits vom Rickenpass wartet die Zukunft.

Die Zeit eilt davon: Immer schneller kommen und gehen die Stunden und Tage. Zwei Wochen noch, dann ist endgültig Schluss – Schlussverkauf. Und eine Ära geht zu Ende: Am Morgen des 29. Oktober wird Regina Steiger – «nach 53 Jahren und zwei Wochen!» – zum letzten Mal ihr kleines «Bastelparadies» an der Bahnhofstrasse 8 betreten, drei Tage später wird sie den Schlüssel abgeben.

Wenn sie in der Woche darauf, am 7. November, ihren 77. Geburtstag feiern wird, würde eigentlich bereits das Weihnachtsgeschäft anlaufen. «Das war immer eine schöne Zeit», bedauert sie. «Ich hätte auch dieses Mal gerne noch einmal das Weihnachtsgeschäft erlebt ...» Jetzt aber nimmt sie den Schlussverkauf vorweg: «Ab sofort verkaufe ich das ganze Sortiment zum halben Preis!»

Wie sie sich dabei fühlt? Sie lächelt tapfer, milde Freundlichkeit leuchtet aus ­ihren Augen: «Ach, wissen Sie – das eine Auge weint und das andere lacht!»

Wäre gerne Juristin geworden

Regina Steiger hat zweimal geheiratet, mit jedem Mann zwei Kinder zur Welt gebracht und ist mittlerweile sechsfache Grossmutter. Sie selbst kam 1945 als ältere von zwei Töchtern in Genf zur Welt, wo der Vater als Chemiker arbeitete. Wenige Jahre später zog die Familie vom Léman an den Zürichsee, die Töchter wurden in Küsnacht eingeschult. Regina wäre gerne Juristin geworden, aber in jener Zeit war es nicht opportun, dass Frauen an der Uni studieren: «Wir durften nicht einmal Hosen tragen», erinnert sie sich mit bitterem Schmunzeln. Dafür habe der Geschichtslehrer in der Sekundarschule früh schon ihr Interesse für das politische Geschehen geweckt. «So habe ich das liberale Gedankengut verinnerlicht – und ein Leben lang keine Abstimmung verpasst!»

Die Ladenglocke läutet, eine Mutter mit ihrer kleinen Tochter tritt ein und erkundigt sich nach ganz bestimmten kleinen bunten Zierperlen für ein Bastelprojekt. Regina Steiger holt eine Schachtel nach der anderen aus ihrem reichhaltigen Sortiment, drapiert dies und das und jenes auf dem Tisch, diskutiert und empfiehlt, bis endlich eine Handvoll kleiner farbiger Kügelchen für vier Franken ­fünfunddreissig den Besitzer wechseln. ­«Eigentlich müsste ich das Material gratis abgeben und für die Beratung eine Gebühr erheben», sagt sie halb scherz-, halb ernsthaft. «Das wäre ein viel besseres Geschäft. Und der Kundenfranken – das, was im Durchschnitt bezahlt wird – wäre wesentlich lukrativer!» 

Regina war 23, als sie ihren ersten Mann heiratete. Er stammte aus einer Gärtner- und Floristenfamilie, die an der Bahnhofstrasse ein Geschäft unterhielt. Hier arbeitete Regina ein Jahr lang als Volontärin; sie lernte Gestecke kreieren und Sträusse binden. Doch bei aller Freude, die sie im Umgang mit Blumen empfand, hat sie ihren Fokus mehr und mehr auf Kunstblumen gerichtet: «Die sind auch sehr schön, und sie halten viel länger.»

So haben die natürlichen Blumen den künstlichen Platz gemacht – und weil die neue Chefin im Laden immer schon auch eine leidenschaftliche Bastlerin war, ist aus dem Blumenladen ein Bastelparadies geworden – und zwar eines, das seinesgleichen sucht und seit mehr als einem halben Jahrhundert Grosseltern, Eltern, Kinder, Enkel und oft auch Lehrer und Kindergärtnerinnen in seinen Bann zieht: bunte Stifte, kunstvolle Blumen aus Seide, kleine Dekoschmetterlinge, grosse Kerzen, prächtige Bänder, glitzernde Steine, schillernde Perlen. Dutzende von beschrifteten Schubladen, tausend verschiedene Artikel und bestimmt zehntausend einzelne Objekte sind hier auf engem Raum versammelt, ein chaotisches und zugleich faszinierendes Sammelsurium an Materialien, Formen und Farben, in welchem nur eine den Überblick hat. Was auch immer gewünscht wird, Regina Steiger findet es auf Anhieb.

1989 ist sie mit ihrem zweiten Mann ins Toggenburg gezogen; zuerst nach St. Peterzell, später nach Lichtensteig. Doch ihre Kundschaft in Küsnacht hat sie nie im Stich gelassen: 33 Jahre lang ist sie jeden Werktag mit «meinem braven Subaru» über den Ricken und die Forch an den Zürichsee gefahren, um den Laden zu öffnen.

«Die Menschen werden mir fehlen»

«Der Bastelladen», sagt sie, «war mein Leben. Vor allem aber werden mir die vielen Menschen fehlen, die mir in all den Jahren die Treue gehalten haben. Und jetzt bleibt mir nichts anderes mehr übrig, als mich bei jenen zu bedanken, die mich begleitet haben. Ihnen gilt die Träne in dem weinenden Auge.»

Und das lachende Auge?

Da schmunzelt sie. «Es geht weiter!», frohlockt sie und erzählt von einer Räumlichkeit – «noch kleiner als das Bastelparadies!» –, die ihr in Wattwil, dem Nachbarort ihrer Wohngemeinde Lichtensteig, angeboten worden war, kurz nachdem sie erfahren hatte, dass ihr Geschäft in Küsnacht keine Zukunft habe.

Dort will sie zusammen mit ihrer Tochter Nicole Bastelkurse anbieten. «Möglichst viele von den Waren, die ich nicht mehr verkaufen kann, werde ich mitnehmen. Das kommt erst mal in die Garage – und dann in unser neues Lokal.»

Luna, die Enkeltochter, hat auch schon einen Namen ersonnen: Aus dem Bastelparadies wird jetzt die «Krea-Werkstatt». So bleibt die Hoffnung bestehen, dass bald richtig gefeiert werden kann. Erst der 77. Geburtstag. Und dann das gerettete Weihnachtsgeschäft.

Damit Regina Steiger wieder mit beiden Augen lachen kann.