Kulturbrücke von Odessa nach Küsnacht

Erstellt von Daniel J. Schüz |
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Vor einem Jahr ist der ukrainische Star-Pianist Alexey Botvinov mit seiner Familie nach Küsnacht emigriert und lebt seither weitgehend unerkannt am Zürichsee. Das wird sich ändern, wenn er nächste Woche in Zürich sein Festival lanciert – die «Odessa Classics».

Früher gingen sie am Sonntag über die potemkinsche Treppe zum Hafen hinunter und schauten zu, wie die grossen Schiffe einliefen und mit dicken Tauen festgemacht wurden. Der Sohn wollte wissen, was die Flaggen bedeuteten, die am Heck flatterten, und der Vater erklärte ihm, woher die Schiffe kamen und wohin sie fuhren.

Lange her – ein ganzes Jahr.

Heute gehen sie am Sonntag hinauf zum fast zugefrorenen Schübelweiher und schauen den Enten zu, die nahe am Ufer noch ein offenes Wasserloch gefunden haben. «Was machen die Enten, wenn das Wasser zufriert?», fragt Mischa. «Wenn sie nicht im Eis gefangen sein wollen, müssen sie die Flucht ergreifen», antwortet Alexey. «Wohin?» – «Vielleicht ist der Rumensee weiter oben noch eisfrei ...»

Früher war Odessa, heute ist Küsnacht.

Und nächste Woche beginnen – zum ersten Mal in Zürich – die «Odessa Classics». Der 58 Jahre alte ukrainische Pianist Alexey Botvinov hat das Musikfestival im Juni 2015 in seiner Heimatstadt gegründet und möchte es jetzt in Zürich fest in­stal­lieren: «Schliesslich weiss niemand, wie lange dieser Wahnsinn noch anhält.»

Kulturmagnet am Schwarzen Meer

Die «Odessa Classics» sind zu einer Tradition geworden, die Jahr für Jahr mehr Künstler und Besucher aus aller Welt ans Schwarze Meer lockte – bis der Diktator in Moskau das Bruderland im Süden mit ­einem Krieg überzog, dessen Brutalität ­fatal an die Gräuel der längst überwunden geglaubten Weltkriege des vergangenen Jahrhunderts erinnert.

«Genau genommen», präzisiert Botvinov, «hat dieser Krieg schon vor neun Jahren begonnen, im März 2014, als Putins Truppen die Krim überfielen und seither bis zum heutigen Tag besetzt hielten.» Gut siebzig Jahre zuvor, im Februar 1945, haben die Siegermächte Russland, USA und England auf der Halbinsel im Schwarzen Meer den zweiten grossen Weltbrand beendet. Die globale Ordnung, von Josef Stalin, Theodore D. Roosevelt und Winston Churchill ausgehandelt, hatte Bestand, bis Wladimir Putin zum Brandstifter wurde und erneut die globale Lunte entzündete.

Im September 1964, knapp zwanzig Jahre nach der historisch denkwürdigen Jalta-Konferenz, kam Alexey Botvinov als Spross einer veritablen Künstlerfamilie in Odessa zur Welt: der Vater Musikprofessor und stellvertretender Direktor des ört­lichen Konservatoriums, die Mutter eine Musikpädagogin, die bis heute im Stadtzentrum von Odessa lebt und unterrichtet.

Alexey, der «alles andere als ein Wunderkind» war, hat seine Kunst «gewiss nicht bei der Mama!» gelernt – und dennoch die Reputation eines Weltstars ­erlangt. Mittlerweile ist er in 46 Ländern aufgetreten und hat Johann Sebastian Bachs legendäre «Goldberg-Variationen» – Musikexperten stufen das 90-Minuten-Pianosolo als anspruchsvollste Pianokomposition der Musikgeschichte ein – so oft und so virtuos intoniert wie noch kein ­Interpret vor ihm.

«Krieg», sagt Alexey Botvinov, dessen kräftige Bassstimme plötzlich sehr leise geworden ist, «Krieg ist einfach nur bar­barisch. Krieg ist das exakte Gegenteil von Kultur.»

Und so ist es nur konsequent, dass er der ukrainischen Tragödie mit seiner Kulturkompetenz begegnet – aus fremder Ferne und mit der Kraft der Musik. Es sei «weder Absicht noch Zufall», fährt Botvinov fort, dass die Terminierung des «Odessa Classics»-Festivals in Zürich als Auftakt zum Jahrestag von Putins Überfall auf die Ukraine gesehen werden kann. Allerdings erkennt er in der zeitlichen Nähe zum 24. Februar «eine enorme Symbolkraft: Seit ich 1996 dem Ballettchoreografen Heinz Spoerli begegnet bin und er mich nach Zürich ans Opernhaus verpflichtet hat, ist Zürich mir zur zweiten Heimat geworden.» Nahezu zwei Jahrzehnte lang sass Botvinov am Steinway-Flügel des Opernhaus-Orchesters und half mit seinen Takten den Ballerinen auf die Sprünge. Jetzt hofft er, dass «mein Festival in Zürich etabliert wird, es soll eine kulturelle Brücke schlagen – vom Schwarzen Meer, wo ich aufgewachsen bin, bis zum Zürichsee, wo ich Zuflucht gefunden habe. Die beiden schönsten Städte der Welt, das Meer und der See – sie sind meine Quellen der Inspiration.»

Auftritt des Kammerorchesters

Im Rahmen der «Odessa Classics» ist das Zürcher Kammerorchester zu zwei spektakulären Auftritten gekommen: 2019 und – nach einer pandemiebedingten Zwangspause – 2021 formierte sich das Orchester auf der potemkinschen Treppe. Daniel Hope, der musikalische Leiter, stimmte seine Geige, Alexey Botvinov setzte sich an den Flügel – und dann erlebte das staunende Publikum die Uraufführung von Tan Duns Doppelkonzert für Violine, ­Klavier und Orchester.

Seither schweigen die Instrumente in Odessa, an ihre Stelle sind Geschützdonner und Sirenengeheul getreten. Das Festival hat der russischen Aggression weichen müssen – westwärts: In Tallinn, Thessa­loniki, Bonn und Vilnius führten die ­Ersatzveranstaltungen im vergangenen Sommer zur makabren Erkenntnis, dass Botvinovs Kulturoffensive das erreicht, was der Barbar im Kreml – so fürchten viele – mit seinem Angriffskrieg letztlich anstrebt: die Eroberung des Kontinents. Jetzt kommen die Odessa Classics also nach Zürich: am 16., 19. und 20. Februar in der Kirche St. Peter, im Kunsthaus und in der Tonhalle. Das Zürcher Festival sieht Botvinov in einem «besonderen Rahmen: Zürich soll zu einem zweiten Odessa werden, denn niemand weiss, wann das Festival zurückkehren kann.» 

Je länger Botvinov über Odessa und ­Zürich nachdenkt, desto mehr Gemeinsamkeiten fallen ihm ein. Zum Beispiel die beiden Opernhäuser: Die Oper in Odessa und das Zürcher Opernhaus wurden vom Wiener Architekturbüro Fellner & Helmer konzipiert und 1887 beziehungsweise 1891 ­eröffnet. Oder die schöne Tradition der Hauskonzerte: «In Odessa haben wir regelmässig Künstler zum Musizieren einge­laden – und hier in Zürich habe ich auch schon in der Villa des Musikmäzens ­Richard Irniger am Zürichberg aufspielen dürfen.»

Noch privater und auf höchster politischer Ebene griff Alexey Botvinov in die Tasten, als Simonetta Sommaruga im Juli 2020 im Rahmen einer Staatsvisite nach Kiew reiste. Die gelernte Konzertpianistin und damalige Bundespräsidentin hat Botvinovs Interpretationen von Bach, Chopin und Rachmaninow in ebenso «lebhafter Erinnerung» wie die Reise mit Präsident Wolodymyr Selenskyi in den von Unruhen geplagten Donbass, wo sie zum ersten Mal in ihrem Leben eine kugelsichere Weste tragen musste. Im Oktober 2021 absolvierte Aussenminister Ignazio Cassis sein Präsidialjahr und besuchte Odessa, wo er ebenfalls zu einem Botvinov-Privatkonzert geladen war und sich «von der Virtuosität des Pianisten tief beeindruckt» zeigte. Der hat seither einen kleinen Traum, den er bislang für sich behalten hat: «Es wäre schön, einmal mit Simonetta Sommaru-ga vierhändig zu spielen», sagt er und schmunzelt: «Vielleicht klappt das ja im Rahmen der Odessa Classics ...»

Knapp vier Monate später fahren hinter der belarussischen Grenze die Panzer auf. «Es kann jeden Tag losgehen. Wir müssen das Land verlassen», sagte Alexey Botvinov zu seiner Frau Elena und zu Mischa, dem neun Jahre alten Sohn. «Wir packen, was wir in den nächsten Wochen brauchen, und nehmen das erstbeste Flugzeug.» 

Austrian Airlines OS620 via Wien nach Zürich ist einer der letzten Flüge, die Odessa verlassen, bevor der Flughafen geschlossen wird – auf unbestimmte Zeit.

Die Botvinovs kommen vorerst im Zürcher Seefeld unter, in einer leer stehenden Wohnung, die Freunde ihnen zur Verfügung stellen; später ziehen sie um ins Obergeschoss eines Hauses in Küsnacht. Die Vermieterin in der Wohnung darunter ist eine grosse Bewunderin von Alexeys Kunst; manchmal, wenn er sich an den schwarzen Steinway setzt, stellt sie sich daneben und schliesst die Augen.

«Wann sehen wir Babuschka?»

Über dem Schübelweiher bricht die Dämmerung herein. Der Vater und sein Sohn machen sich auf den Heimweg. Mischa freut sich auf den Montag; er geht in die zweite Klasse und «ret scho zimli guet schwyzerdütsch». Nur manchmal, da ­vermisst er die Freunde von früher. Und die Grossmutter. «Wann sehen wir die ­Babuschka wieder?» – «Irgendwann, ganz ­bestimmt.» – «Rufen wir sie morgen wieder an?» – «Wir sprechen doch jeden Tag mit ihr!» Es gehe ihr so weit nicht schlecht, beruhigt Vera Botvinova am nächsten Morgen ihren Sohn am Telefon. Alexey ­Botvinovs 78 Jahre alte Mutter will lieber in ihrer Stadtwohnung ausharren als die Heimat verlassen.

In der Nacht sei zwar wieder stundenlang der Strom ausgefallen, das Wasser und die Heizung ebenso: «Ich friere bei acht Grad in der Küche, habe alles angezogen, was ich im Kleiderschrank gefunden habe.»

«Und die Oper – steht sie noch?»

«Sie haben sie mit Sandsäcken verbarrikadiert. Sie ist gut geschützt. Und die Philharmonie auch.»

«Gott sei Dank», sagt Alexey. «Bitte, Mama, pass auf dich auf!»