«Küsnachter Goalies sind Weltklasse»

Erstellt von Daniel J. Schüz |
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Als Sportreporter beim «Tages-Anzeiger» war er Fussball- und Eishockey-Experte. Als Medienchef der Fifa vertiefte er sich in die internationale Fussballszene: der Küsnachter Guido Tognoni, 74, über die Hintergründe zur Fussball-EM und die Chancen der Schweizer.

Krieg und Fussball liegen in diesen Tagen nah beieinander: Morgen nimmt die weltweite Politprominenz auf dem Bürgenstock Verhandlungen über eine Lösung des Ukraine-Konflikts auf, gleichzeitig eröffnen Deutschland und Schottland in München die Fussball-EM. Übermorgen tritt die Schweiz gegen Ungarn an und am Montag spielt die Ukraine gegen Rumänien. Russland jedoch fehlt – auf dem diplomatischen Parkett ebenso wie in den EM-Stadien.

Guido Tognoni: Es ist immer ein heikler Seiltanz, wenn Sport und Politik einander in die Quere kommen. Was kann ein russischer Fussballspieler dafür, wenn Putin die Ukraine überfällt? Andererseits ist der Fussball für jede Nation – und das gilt ganz besonders für die osteuropäischen Länder – ein prestigeträchtiges Aushängeschild.

War der Entscheid richtig, Russland vom Turnier auszuschliessen?

Letzten Endes ja. Theoretisch hätte es dann ja zu einer Begegnung zwischen Russland und der Ukraine kommen können; das wäre für das ukrainische Team eine Zumutung, die man vermeiden sollte.

Das schönste Kapitel in Deutschlands Fussballgeschichte liegt siebzig Jahre zurück: Damals wurde die WM in der Schweiz ausgetragen ...

... und im Wankdorf-Stadion ereignete sich «Das Wunder von Bern». Deutschland gewann den Final gegen Ungarn und leitete die entscheidende Wende in der Geschichte des Landes ein.

Inwiefern?

1954, keine zehn Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, wurde ein Land Fussball-Weltmeister, das diesen Krieg ver­ursacht und verloren hat – und es wurde wieder in der Weltgemeinschaft aufgenommen. Das Wunder von Bern ist ein Beispiel für die Brücken, die der Sport bauen kann.

Heute erleben wir eine ähnliche Situation  – mit dem Unterschied, dass Russland, das wie damals Deutschland einen Krieg verschuldet, am Verhandlungstisch und in den Stadien fehlt. Noch einmal: Haben die Politik und der Sport die Chance verpasst, eine Brücke des Friedens zu schlagen?

Es geht weniger um kriegerische Konflikte, vielmehr um Menschenrechte, die in den meisten Ländern nicht gewährleistet sind. Nicht nur der Fussball, der Sport ganz allgemein befindet sich in einer delikaten Lage: Das Internationale Olympische Komitee sucht in einer heiklen Gratwanderung Kompromisse und geht nach China, die Fifa ging 2018 nach Russland und plant die WM 2034 in Saudi-Arabien. Es sind schwierige Entscheide, die dem Sport dienen und politisch vertretbar sind.

Trotz der angespannten sicherheitspolitischen Lage träumen die Menschen in Deutschland bereits von einem neuen «Sommermärchen».

Die Erinnerungen an den Sommer 2006, als Deutschland die Weltmeisterschaft ausrichtete, sind noch sehr lebendig.

Obwohl die Deutschen am Ende den undankbaren dritten Platz belegten.

Immerhin haben sie den Halbfinal erreicht; das ist für jeden Gastgeber eine wichtige Voraussetzung für ein erfolg­reiches Turnier. Und dann hat auch das Wetter mitgespielt – vier Wochen lang herrschte Sonnenschein. Das Sommermärchen hat bereits mit dem Motto begonnen: «Die Welt zu Gast bei Freunden». Die Deutschen haben diese Botschaft der Gastfreundschaft perfekt umgesetzt – damals ...

... und heute?

Heute verspricht der Slogan «United by Football. Vereint im Herzen Europas» nicht wirklich ein weiteres Sommermärchen. Organisatorisch sind die Deutschen zwar durchaus in der Lage, ein reibungsloses Turnier auszutragen. Aber sportlich sehe ich viele Fragezeichen: Die deutsche Elf ist noch lange nicht dort, wo sie damals stand. Vor allem aber steht das Land politisch vor einem Abgrund.

Sie denken an die Protestpartei AfD?

Das Erstarken dieser Partei ist eine Reaktion auf die politische und wirtschaftliche Realität, das muss man in einer Demokratie tolerieren. Die Grünen haben so viel Macht, dass Deutschland im Begriff ist, den Benzinmotor abzuwürgen und damit seine wichtigste Industrie abzuschaffen. Es ist absehbar, dass das nicht mehr lange so weitergehen kann. Eine ideale Stimmung für ein Sommermärchen sehe ich da nicht.

Vielleicht gibt es für die Schweiz ein Sommermärchen. Wir gelten immerhin als Goalie-Nation ...

... und Küsnacht ist die Goalie-Gemeinde! Es ist ein hübscher Zufall und allgemein kaum bekannt, dass mit Yann Sommer und Gregor Kobel zwei Weltklasse-Goalies ihre Wurzeln in unserem Dorf haben: Die Nummer 1 und 2 im Schweizer Tor sind in Küsnacht aufgewachsen. Yann hat seine Karriere bei den Junioren des FC Herrliberg gestartet und hütet heute das Goal bei Inter Mailand, sein Vater Daniel Sommer war Präsident des FC Küsnacht, bevor die Familie ins Baselbiet zog. Auch Gregor hat das Sport-Gen vom Vater geerbt: In den 90er-Jahren gehörte Peter Kobel als Eishockey-Stürmer beim ZSC, in Kloten, Lugano und Davos zu den Stars der Nationalliga.

Müsste sein Sohn Gregor aufgrund seiner Leistungen in Dortmund nicht die Nummer 1 im Schweizer Tor sein?

Es ist eine Ermessensfrage: Yann Sommer hat mit Inter Mailand eine grossartige Saison absolviert, Gregor Kobel mit Borussia Dortmund den Champions-League-Final erreicht – das ist sensationell. Wenn ich zwischen zwei ebenbürtigen Goalies wählen müsste, würde ich mich für den grösseren entscheiden – und Gregor überragt mit seinen 194 Zentimetern Yann um zehn Zentimeter. Aber es kommt auch darauf an, wie ein Goalie sich in die Mannschaft einfügt, wie er seine Verteidigung organisiert – und wie reflexstark er ist. Da hat Penalty-Killer Yann wiederum die besseren Karten. Wir können froh sein, dass Nati-Trainer Murat Yakin die Wahl hat zwischen diesen beiden Top-Goalies.

Top-Goalies haben wir, gute Verteidiger auch – und ein Mittelfeld, in dem Xhaka oder Shaqiri mit genialen und kreativen Spielzügen überraschen können. Aber ganz vorne ist keiner, der zuverlässig den Sack zumacht.

Im Sturm haben wir tatsächlich ein Problem. Da müssen wir auch auf das Glück vertrauen.

Philipp Lahm, der vor zehn Jahren in Brasilien als deutscher Mannschaftskapitän Weltmeister wurde und heute als Direktor das EM-Turnier leitet, sagte in einem Interview, die Schweizer seien immer für eine Überraschung gut. Hat er recht?

Ich denke schon. Wir haben uns in den letzten Jahren regelmässig für grosse Turniere qualifiziert, das ist für ein kleines Land keine Selbstverständlichkeit. Aber man muss auch relativieren: Die Teilnehmerfelder werden grösser, immer aufgeblähter – und bei 24 Mannschaften ist die Qualifikation keine Hexerei mehr; zudem hat sich die Nati in einer ausgesprochen leichten Gruppe durchsetzen können.

Jetzt müssen wir in der Vorrunde gegen Ungarn, Schottland und Deutschland antreten. Wie stehen die Chancen, den Achtelfinal zu erreichen?

Wir sind mit Deutschland die klaren Favoriten in der Gruppe. Wenn wir und die Deutschen die zwei ersten Spiele gewinnen, sind wir mit jeweils sechs Punkten eine Runde weiter; dann ist die letzte Begegnung nur noch ein Freundschaftsspiel  – das wäre der Idealfall, aber auch die  langweiligste Variante. Andererseits könnte es, sollten die Schweizer am Samstag ihr erstes Spiel gegen Ungarn verlieren, schon sehr schnell brutal eng werden. Immerhin haben wir mittlerweile sehr erfahrene Turnierspieler im Team; die Mannschaft hat eine solide Beständigkeit erreicht. Das lässt hoffen.

Und das, obwohl Trainer Murat Yakin in letzter Zeit im Schussfeld der Kritik stand  – sogar bei den eigenen Spielern.

Es ist gut, wenn man Probleme offen ansprechen kann. Yakin pflegt ein freundlich-kumpelhaftes Verhältnis zur Mannschaft. Schon als Spieler hat er sich von seinen Instinkten leiten lassen – und das tut er auch als Nati-Coach. Sein Handicap sind Stars wie Xhaka oder Akanji, die im ­eigenen Club unter Weltklasse-Trainern arbeiten, Xabi Alonso von Bayer Leverkusen etwa oder Pep Guardiola von Manchester City. Im Vergleich zu einem Murat Yakin aus Schaffhausen kann da schon ein Imagegefälle entstehen. Aber Murat ist mit seinen 49 Jahren noch jung genug, um wichtige Erfahrungen zu sammeln. Jetzt steht er vor seiner ultimativen Chance: Wenn Murat die Nati in den Viertel-, Halb- oder gar in den Final führt, setzt er sich ein Denkmal und ist selbst einer der ganz Grossen.

Wie werden Sie die nächsten vier Wochen verbringen?

Hauptsächlich vor dem Fernseher, da kann ich möglichst viele Spiele sehen. Ich bin ein grosser Fan des Fernsehsports und schätze sehr, was die TV-Leute technisch draufhaben. Man kann zurückspulen und jede kritische Situation, jedes Offside noch einmal anschauen. Vor dem Fernseher hat man sehr viel mehr vom Spiel als im Stadion. Aber klar: Die Atmosphäre, die fehlt natürlich.

Sie wollen einen ganzen Monat nonstop vor dem Bildschirm sitzen?

Könnte man so sagen ...

Andere suchen das Gemeinschaftserlebnis beim Public Viewing – oder laden Freunde ein und veranstalten eine Fussball-Party.

Da müssen aber auch die richtigen Leute zusammenkommen, sonst schnorren ­einem doch alle drein! Ich geniesse ein Spiel am liebsten alleine nach einem guten Essen; da kann ich kritische Szenen wiederholen und schalten und walten, wie es mir passt.

Und wenn die Schweiz weiterkommt, gar den Halbfinal erreicht – bleiben Sie dann immer noch einsam zu Hause hocken?

Man soll nie nie sagen. Vielleicht wäre das ein Grund, die Stimmung im Public Viewing in der «Sunne-Metzg» zu geniessen.

Haben Sie, wenn Sie an die kommenden Tage und Wochen denken, einen Traum?

(denkt nach) Es wäre ideal, wenn die Schweiz gleich zweimal gewinnen könnte.

Wie das?

Morgen vermitteln unsere Diplomaten auf dem Bürgenstock einen Waffenstillstand im Ukraine-Krieg und in vier Wochen werden die Nati-Spieler im Berliner Olympiastadion Europameister, weil ein Küsnachter Goalie den entscheidenden Penalty hält!

Ein schöner Traum! Wollen Sie auch noch eine realistische Prognose wagen?

Am 14. Juli holen die Holländer den Titel. Das würde ich den sympathischen «Oranjes» von Herzen gönnen; sie waren bei grossen Turnieren oft nah am Titel und haben es doch noch nie geschafft.

 

Personen-Box

Von Bever über Zürich nach Katar

Guido Tognoni, 74, ist Bürger von Bever im Engadin; er wuchs in St.  Moritz und Davos auf. Er ist verheiratet, hat eine Tochter und lebt seit fünfzig Jahren in Küsnacht. Nach dem Jus-Studium in Zürich arbeitete Tognoni als Sportredaktor beim »Tages-Anzeiger», bevor er 1984 die Front wechselte und bei der Fifa als Direktor für Medien- und PR-Arbeit verantwortlich war. Er organisierte die WM-Endrunden 1986 (Mexiko), 1990 (Italien), 1994 (USA) und 2002 (Japan/Südkorea).1998 bis 2000 leitete er bei der Uefa das Projekt EURO 2000 in Belgien und Holland. 2004 zog Tognoni nach Doha (Katar), er engagierte sich bei den Asian Games und als Rechte-Vermarkter. Nach der Rückkehr aus Katar war er freischaffender Sportberater, unter anderem in Kasach­stan.