Kritik? Kritik!

Erstellt von Jakob Weiss |
Zurück

Rubrik: Küsnachter Dorfplatz

Demokratie ist ein einfaches und verständliches Wort. Wir wissen, was gemeint ist, genau so, wie wenn wir «Skifahren» oder «Sommerferien» sagen. Beim genaueren Hinsehen wird es komplizierter. Der eine macht einsame Skitouren, die andere liebt belebte Pisten. Manche fahren im Sommer ans Meer, andere kennen eine Waldhütte im Toggenburg. Schauen wir hinter die Kulisse des so selbstverständlichen Wortes Demokratie, wird es noch weit vielfältiger! Da tauchen Begriffe wie Freiheit auf, Gleichberechtigung ist ein Anliegen, Mehrheiten und Minderheiten wimmeln durchs Bild, Fremdes und Eigenes stehen einander konfliktvoll gegenüber. Und das Volk als oberste sich selbst bestimmende Gewalt lauert paradox im Raum, wenn wenige gewählte «Repräsentanten» um die Interpretation des Auftrags der vielen streiten. Kurz: Die Bücher, die über Sinn, Zweck und Funktionstüchtigkeit der Demokratie geschrieben worden sind, füllen eine kleine Bibliothek.

Hier möchte ich nur auf einen besonderen Aspekt von Demokratie eingehen. Er wird als unangenehm empfunden, man versucht ihn zu vermeiden, man fürchtet sich vor ihm, man will ihn mit Schlechtreden zum Schweigen bringen, man ignoriert ihn. Gemeint ist die Kritik an den Regierenden, oft auch ­Opposition genannt.

Zuerst zum Wort. «Kritisieren» heisst ursprünglich nichts anderes als «unterscheiden». Heute wird diese Tätigkeit fast immer negativ verstanden und mit «bemängeln» gleichgesetzt. Für das gute Gelingen von Demokratie ist das verheerend. Denn, um aus einem neuen Buch des Soziologen Armin Nassehi zu zitieren: «... es [ist] in erster Linie die andere Seite der Regierung, die den demokratischen Herrscher zum Demokraten macht. Der positive Wert der Demokratie ist die Opposition, nicht die Regierung. Regierungen gibt es überall. Man kann fast sagen: Regieren ist trivial, wenn man die Macht hat.» Diese brisante Aussage gilt es zu verdauen. Was auf den ersten Blick als Abwertung der Exekutiven erscheint, legt auf den zweiten Blick die dialektische (auf Gegenrede basierende) Struktur von Demokratie frei.

Im stets nach mehr Effizienz trachtenden Alltagsleben wirkt das Umständliche hinderlich, ist schwer zu ertragen. Wie Kritik auch. Schlanke Organisation mit klaren Kompetenzverhältnissen ist das Mantra der Zeit. Dem widersetzt sich wahre Demokratie fundamental: Alle sollen mitreden können. Die Frage, ob das überhaupt glaubwürdig umgesetzt werden kann, muss hier zur Seite stehen – wie sich alle zusammen selber regieren können, ist eine komplexe Sache. Doch am Ideal gemessen wird durch das Zitat klar, dass demokratische Verhältnisse nur dann existieren, wenn gegen die Vollstreckungsorgane stetige Widerrede – eben Kritik – geleistet wird. Fehlt der Widerstand oder kann er sich nur im Versteckten regen, darf man mit Fug und Recht auf eine absolutistische Regierung oder eine Diktatur schliessen.

Das Gute an dieser schwierigen Botschaft, die übrigens im ­eigenen Familienleben, je selbstständiger die Kinder sind, umso besser überprüft werden kann, ist, dass sie die Regierenden beziehungsweise die Exekutiven grundsätzlich entlastet. Denn sie können gar nicht anders, als für ihre Arbeit kritisiert zu werden. Dies zu ertragen, gehört zur politischen Aufgabe wie das Einatmen vor dem Ausatmen – Kritik und Opposition sind notwendige Lebensvoraussetzungen der Demokratie. Hat man das erkannt, werden Fehler verzeihbar, und Scheitern ist keine Schmach mehr, sondern der anregende Diskussionsstoff für den nächsten Tag.

Nun fehlt in dieser Betrachtung noch der Begriff der Öffentlichkeit. Für fruchtbare De­batten braucht es ­einen ge­regelten, aber für alle Anliegen und ­Bedürfnisse offenen «Marktplatz». Auch Minderheiten und Einzelpersonen müssen sich äussern können, um das ­Bestmögliche aus oft langwierigen Prozessen herauszuholen. Als kleiner pu­blizistischer Anfang wäre eine halbe Seite im «Küsnachter», vielleicht unter dem Titel «Dorfplatz» und klar abgegrenzt von den Leserbriefen, ein wertvoller Schritt für die lokale Diskussionskultur.

*Jakob Weiss war Sozialwissenschaftler, Kleinbauer und schreibt an einem weiteren Buch. Er wurde 1948 in Küsnacht geboren.