Gasthof Krone: Der General und der Heilige unter einem Dach

Erstellt von Daniel J. Schüz |
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Gestern hat Tenba Sagangtsang die ehrwürdige «Krone» auf der Forch als «Zambale» wieder eröffnet. Für die nächsten drei Jahre haben die Gäste die Wahl zwischen tibetischen Spezialitäten und gutbürgerlicher Schweizer Küche.

Seit ein paar Tagen ist der alte General nicht mehr allein: Gleich hinter der Eingangstüre, dort, wo er schon immer hing, mustert Henri Guisan die eintretenden Gäste mit strenger Miene, während drinnen, in der Gaststube, aus dem Gesicht Seiner Heiligkeit das bekannte, sanftmütige Lächeln strahlt. Tenzin Gyatso, so der bürgerliche Name des Dalai Lama, heisst hungrige und durstige Besucher auf der Forch willkommen. Liebevoll hat Tenba Sagangtsang das Bild an der Wand in goldgelbe, mit tibetischen Schriftzeichen bedruckte Seidentücher gehüllt.

Der General geniesse in der «Krone» so etwas wie Gewohnheitsrecht, sagt der neue Wirt im Gasthaus Krone und schmunzelt. «Immerhin befindet sich das Gasthaus an der General-Guisan-Strasse.» Und der Dalai Lama? «Er ist unser religiöser Führer, eine lebendige Gottheit – er steht über allem.» Mit ernstem Blick, die Hände zum Gebet gefaltet, steht Tenba vor dem Konterfei Seiner Heiligkeit. «Dem Dalai Lama», sagt der 44-jährige ­Tibeter, «gehört unsere Liebe und unsere Verehrung. Aber wir sind sehr besorgt – es geht ihm nicht gut ...»

Leben nach fünf Monaten Pause

Fünf Monate lang, seit Hans Schiess, der langjährige «Kronen»-Wirt, Ende September in Pension ging und mit seiner Familie die Forch verliess, waren die Türen der traditionsreichen Gastwirtschaft geschlossen. Bis gestern das Leben zurückkehrte: Pünktlich zum Beginn der Frühlingssaison hat Tenba mit einem reichhaltigen Apéro aus tibetischen und helve­tischen Häppchen das neue «Zambale» eröffnet.

«Zambale» kommt aus dem Tibetischen und bedeutet frei übersetzt so viel wie «schönes, geselliges Beisammensein» – ein Name, dem das Restaurant, das Tenba im Zentrum von Uster sieben Jahre lang als Pächter führte, alle Ehre machte. Bis der Besitzer der Liegenschaft ihm eröffnete, dass das Gebäude abgerissen werde und er sich nach etwas Neuem umschauen müsse. Etwa zur selben Zeit, als auf der Forch die «Krone» den Betrieb einstellte, musste auch Tenbas «Zambale Asian Kitchen» in Uster schliessen.

Henri Guisan und der Dalai Lama stehen für das neue gastronomische Konzept: Das Wesentliche bleibt, wie es war, und doch wird vieles auch ganz anders. An der Fassadenecke des prächtigen, denkmalgeschützten Gebäudes, das vor 340 Jahren noch als Postkutschen-Hospiz diente, bleibt die schmiedeeiserne Krone hängen. Dafür haben einheimische Stammgäste und Tagestouristen auf Tenbas Speisekarte die Wahl zwischen bewährten Schweizer Gerichten und fernöstlichen Köstlichkeiten, unter denen die tibetischen Teigtaschen besonders beliebt sind: Momos sind mit Rindfleisch und in der vegetarischen Version mit Spinat, Karotten oder Sellerie gefüllt.

Jetzt steht Tenba Sagangtsang vor einem gastronomischen Paradigmenwechsel: Unten, in der Stadt, bestand seine Kundschaft hauptsächlich aus Passanten, die zwischen Bahnhof und Büro den Hunger stillten; auf dem Pfannenstiel, zehn Kilometer entfernt und 250 Meter weiter oben, wird er Wanderer und Biker empfangen, die Zeit und Musse haben. Und nebenbei will er auch weiterhin seinen bewährten Hauslieferdienst anbieten.

Schreckliche Jugend

Als Tenba im Juli 1979 in einem kleinen Dorf, weit entfernt von der Hauptstadt Lhasa, zur Welt kam, war seine Heimat bereits seit drei Jahrzehnten von chinesischen Truppen besetzt und annektiert. «Es war eine schreckliche Zeit», erinnert er sich an die Jahre seiner Jugend. Die Chinesen haben das Land geraubt, die Menschen misshandelt und verschleppt. Sie haben aus der Heimat ein grosses Gefängnis gemacht.

Heute erfüllen ihn die Nachrichten aus der Ukraine, die seit einem Jahr die Welt erschüttern, mit Entsetzen und Traurigkeit. «Was die Chinesen damals unserem Volk angetan haben, ist vergleichbar mit dem Krieg, den Russland gegen seine Nachbarn führt. Es gibt nur einen wesentlichen Unterschied: Die Menschen, die in der Ukraine ihre Freiheit verteidigen, bekommen moralische Unterstützung und Waffen aus der ganzen westlichen Welt. Wir Tibeter hingegen sind damals vergessen worden. Uns hat niemand unterstützt.»

Vor zwanzig Jahren fasste die Familie Sagangtsang den Beschluss, aus dem ­besetzte Land zu fliehen. Wochenlang schlugen sie sich auf einer gefährlichen, strapaziösen Flucht durchs Himalaja­gebirge bis nach Nepal durch. In der Hauptstadt Kathmandu trennten sich ihre Wege: Während die Familie in die USA emigrierte, folgte Tenba dem Rat von Freunden: In der Schweiz, sagten diese, wären Flüchtlinge aus Tibet sehr willkommen.

Via St. Gallen und Rikon im Tösstal, wo die grösste buddhistische Klostergemeinschaft ausserhalb von Tibet eingerichtet wurde, kam Tenba nach Uster. Er lernte eine Landsfrau kennen, gründete mit ihr eine Familie, ist heute Vater von zwei Töchtern. Und: Seit fünf Jahren ist er zum ersten Mal stolzer Besitzer eines Passes – 40 Jahre lang hatte er gar keinen – jetzt ist er Schweizer Bürger. In der Freizeit fährt Tenba gerne mit der Familie in den Alpstein oder ins Toggenburg. «Auf dem Säntis oder in Wildhaus fühle ich mich wohl», sagt er. «Die Berge erinnern mich an die Heimat.»