Eintauchen in ein grünes Meer

Erstellt von Céline Geneviève Sallustio |
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Pünktlich zum Frühling erreicht Küsnacht eine japanische Tradition, die hierzulande mit Vorurteilen zu kämpfen hat. Die Rede ist vom sogenannten Waldbaden, bei dem es um die Beobachtung der Natur und die Sinnlichkeit geht.

Am Waldrand von Küsnacht befindet sich das Atelier von Carmen Rothmayr. Auf dem Steinboden vor dem Eingang stehen Schnittblumen in einem Wassereimer, einige Äste liegen fein säuberlich zusammengebündelt am Boden, daneben spriessen die ersten Tulpen auf der Wiese. Eine grüne Oase direkt in einem Wohnquartier. Seit 2015 hat die gelernte Floristin hier ihr Atelier, in dem sie Kurse in Ikebana, einer japanischen Blumenkunst, anbietet. Japanische Traditionen haben es der 55-Jährigen angetan: Erst gerade letztes Jahr hat sie die Shinrin-Yoku-Praxis in ihr Repertoire aufgenommen. Shinrin-Yoku bedeutet übersetzt «eine Walddusche nehmen», «Eintauchen in die Waldatmosphäre» oder einfach «Waldbaden». Waldbaden und Ikebana teilen einige Gemeinsamkeiten: die Entschleunigung, die ­Beobachtung der Natur und die Sinnlichkeit. «Es geht darum, sich auf die Natur- und Pflanzenwelt einzulassen», erklärt Rothmayr. Was nach Esoterik und Spiritualität klingt, ist durchaus ernst gemeint: Schon der Anblick eines Bildes vom Wald hat Untersuchungen zufolge eine positive Wirkung auf den Betrachter. Noch gesünder ist daher die japanische Achtsamkeitspraxis.

Die Kunst des Innehaltens

Doch: Wie geht das, Waldbaden? Vom Atelier an der Oberen Bühlstrasse bewegen wir uns in Richtung Küsnachter Wald, hinein ins Dickicht. «Ich gehe gerne vom Weg ab und tauche sprichwörtlich in den Wald hinein», sagt Rothmayr und verlangsamt dabei ihr Schritttempo. Die Route für das mehrstündige Waldbaden läuft Rothmayr im Vorhinein ab und überlegt sich dabei, wo sie für kleinere Achtsamkeits- oder Kreativübungen stehen bleiben möchte. Zu Beginn lautet das Credo: Anhalten und innehalten. «Erst wenn wir zu schlendern beginnen und so das Tempo aus unserem Alltag verlangsamen, sind wir auch bereit, achtsam durch den Wald zu gehen», erklärt Rothmayr und bleibt an einem Baumstamm stehen, an dem sich die Rinde zu lösen beginnt. «Das gibt ein interessantes Bild», sagt sie und beobachtet. Dann sammelt sie respektvoll etwas Rinde vom Boden zusammen und ordnet sie zu einem Arran­gement. «Solche spielerischen Übungen gehören ebenfalls dazu», so Rothmayr, «es geht dabei darum, die Leichtigkeit und die kindliche Freude wiederzuentdecken.»

Die Kritik am Waldbaden liegt auf der Hand: Ein Spaziergang durch den Wald tuts doch auch. Weshalb also waldbaden? Die Motive dazu sind so grün wie die Bäume selbst: «Die Erde enthält das Mycobacterium vaccae, das eine antidepressive Wirkung aufweist», sagt die 55-Jährige und nimmt behutsam eine Handvoll Erde vom Boden auf und hält ihre Hände vor die Nase. Nachweislich hat Waldbaden verschiedene positive Effekte auf die Gesundheit wie Blutdrucksenkung, einen tieferen Ruhepuls, Steigerung der Immunabwehr durch die Produktion und Aktivierung der natürlichen körpereigenen Killerzellen, die Erhöhung von Anti-Krebs-Proteinen, Stressreduktion und die Steigerung des Wohlbefindens. Waldbaden ist kein Trend – zumindest nicht in Japan. «Dort wird Shinrin-Yoku seit 1982 vom Gesundheitswesen gefördert und gilt als anerkannte Therapieform gegen Stress-Erscheinungen», so Rothmayr weiter. «Natürlich ist es immer gut, wenn Menschen in den Wald gehen», sagt Rothmayr, «das Gedankenkarussell bewusst zu unterbrechen, das ist der Kern von Shinrin-Yoku.»

Naturnähe seit der Kindheit

Ein grüner Faden verläuft durch ihr Leben: Nicht nur heute lebt sie in der Nähe des Waldes, auch als Kind wohnte sie in einer dicht bewachsenen Hügellandschaft bei Lugano, im Malcantone. Ihre Mutter brachte ihr die Freude für Blumen näher: «Ich begleitete meine Mutter auf den Markt, um Sträusse zu verkaufen», sagt Rothmayr. Einige Jahrzehnte später tat sie es ihrer Mutter gleich und verkaufte ebenfalls Sträusse am Küsnachter Markt. Nicht nur ihre Begeisterung für Pflanzen, sondern auch die Wohltat der Bäume und des Waldes möchte sie weitergeben. Deshalb bietet Rothmayr nicht nur Ikebana-Kurse, sondern neu auch Waldbaden-Kurse an. «Ich wünsche mir, dass Waldbaden nicht belächelt wird», sagt sie und hofft, mit ihrem Kursangebot das Klischee durchbrechen zu können.