Ein Professor, der liebe Gott und die bedrohte Wahrheit

Erstellt von Daniel J. Schüz |
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Der Küsnachter Physiker Dieter Imboden hat ein Buch über das Leben verfasst – über sein Leben: wenig Fachjargon, viel Weisheit. «Zugefallen» ist auch eine Ode an die Heimat – an Küsnacht.

«Grüeziwohl!»

Peloponnes, Griechenland, am späten Nachmittag des 31. Oktober. Halloween: Im Fischerdorf Agios Nikolaos, an der felsigen Westküste der Halbinsel Mani, glaubt keiner an Gespenster. An den Zufall schon eher ...

Ein älteres Paar sitzt vor der Hafenkneipe Mezé beim Apéro und plaudert. Unverkennbar Schwyzerdütsch.

«Ihr chömed us de Schwiiz?»

Aus drei Augenpaaren strahlt, zweitausend Kilometer von der Heimat entfernt, freudiges Erstaunen.

«Vo wo genau?»

«Küsnacht am Zürisee – und selber?»

«Küsnachterberg!»

«Nei, das glaub i jo nöd – was für en Zue­fall!»

Oder gar eine Fügung?

«Auf jeden Fall ein schönes Beispiel für das Phänomen der Synchronizität», schmunzelt der Mann, der sich als Dieter Imboden vorstellt. Professor Imboden notabene – aber das erwähnt er nicht, das wird deutlich, sobald er doziert: «Bei der Synchronizität haben wir es mit Ereignissen zu tun, die ohne kausalen Zusammenhang gleichzeitig auftreten.» Er beruft sich auf den legendären Psychiater Carl Gustav Jung – noch ein Küsnachter, «mit dessen Enkelkindern meine Geschwister und ich durch den grossen Garten tobten!» – und den nicht minder renommierten Physiker Wolfgang Pauli. Der Quantentheoretiker und der Seelenforscher kommen in ihrem Schriftwechsel* zum ebenso spekulativen wie spektakulären Schluss, dass neben den ehernen Gesetzen der klassischen Physik noch ein weiteres «Ordnungsprinzip» die Welt steuern könnte – eben: die ominöse Synchronizität.

«Das Leben fällt uns zu, es ist im wahrsten Sinn des Wortes ‹zufällig› – nicht nur unsere Geburt, sondern alles andere auch ...» Dieter Imboden spannt schon mit dem ersten Satz seines lesenswerten Buches – unter dem sinnigen Titel «Zugefallen» ** erzählt es die Geschichte eines Lebens zwischen Menschen, Wissenschaft und Umwelt – den Bogen vom Start ins Leben bis hin zu dessen Vollendung. Mit dem abschliessenden Satz bedient sich der leidenschaftliche Freizeit-Kapitän der Metapher eines Schiffes, das vor der Flussmündung die letzte Schleuse passiert: «Gleissendes Licht flutet die Kammer ... und zieht gleichzeitig, von magischen Kräften gezogen, das Schiff hinaus auf eine unendliche Wasserfläche, die sich hinter dem Tor auftut, ohne Form und Kontur, ohne Ton, ohne Zeit, leer und alles auslöschend.» 

... alles auslöschend? Wie meint er das? 

Wer mag, räumt der Autor ein, kann in der Schleuse durchaus auch den Geburtskanal erkennen, und im Tor, das sich öffnet, den Eintritt in die Welt, im offenen Meer das Leben selbst. Wenn aber Anfang und Ende, Geburt und Tod austauschbar sind, schliesst sich der Kreislauf – und nichts löscht aus ...

Die Schleuse sei lediglich ein Übergang und keine Antwort auf letzte Fragen, sagt Imboden. Eine andere Metapher gefällt ihm besser: «Das Leben gleicht dem Bau einer Brücke über einen Fluss», schreibt er. «An einem Ufer tritt der Mensch in die Welt und am anderen verschwindet er wieder im Nichts.» Vom diesseitigen Brückenkopf arbeitet er sich, Teilstück für Teilstück, voran, weiss aber nicht, wie breit der Fluss ist, «weil das jenseitige Ufer im Nebel verschwindet – und er muss damit rechnen, dass es vielleicht ganz unvermittelt auftaucht.»

Dieter Imboden nimmt den Leser an der Hand und schlendert selbander über die unvollendete Brückenkonstruktion; siebzehn Teilstücke sind mittlerweile verbaut, siebzehn Kapitel, die einander zeitlich überlappen, sich nur ungefähr an eine biografische Chronologie halten, dafür aber konsequent die beiden Seelen in der Brust des Chronisten ausleuchten.

Da ist der Dieter, Dieti nannten sie ihn einst, der erzählende Belletrist; er schwelgt in Erinnerungen, lässt bunte Bilder aufleben – und geht zum eigenen Ich auf Distanz, indem er sich selbst in die dritte Person versetzt: Er ...

Und dann ist da der Professor Imboden, der akademische Analytiker; er interpretiert die Memoiren seines anderen Ich, relativiert, ordnet ein. Und bringt sich selbst aus heutiger Perspektive in der ersten Person ein: Ich ...

Zum Thema «Ich» ist ihm eines der spannendsten Kapitel zugefallen. In den später 1950er-Jahren, als der Bub nach der Schule gerne noch durchs Dorf strielte, am Bach entlang und hinunter zum Horn am See, liess er auf seinen Streifzügen auch den Gedanken freien Lauf. Wer ist dieser Bub, fragte er sich, von dem man sagt, er heisse Dietrich Max, den alle aber Dieti rufen? Wer ist der, der in mir steckt? Wer bin ich? Etwa den Eltern geschenkt von einem, der, wenn stimmt, was die Mutter erzählte, zwar der liebe Gott hiess, aber Dinge tat, die richtig böse waren.

Er mochte der Mutter nicht widersprechen und gestand dem gar nicht so lieben Gott immerhin Macht zu – so viel, dass er das Problem der vielen Babys, die in der eigenen, aber auch vielen anderen Familien geboren wurden, locker lösen konnte, indem er wohl über ein riesiges Lager verfügte, voller Regale, auf denen ungezählte Ichs nur darauf warteten, in einen Körper gesteckt zu werden.

Soweit die Erinnerung des Autobiografen Imboden. Der Professor Imboden ergänzt und erläutert: Wer das Bewusstsein erforschen will, verbindet philosophische Erkenntnisse mit neurologischen Fakten. Beides findet im Gehirn statt, das sich gezwungen sieht, eine höhere Macht zu erfinden, um das Unerklärliches zu erklären. «Deshalb», sagt er, «finden wir in allen Kulturen Götter und Gottheiten.»

Dieter Imboden sprengt mit der Geschichte seines Lebens den Rahmen einer Autobiografie. Wenn er die Jahre seiner Kindheit und Jugend, aber auch den Ort seines gegenwärtigen Wirkens schildert, wird sein Buch zum Küsnachter Heimatroman. Wo er den Fokus auf Sibyl, Lorenz und Salomé richtet, entsteht eine berührende Liebeserklärung an die Gattin und Mutter seiner Kinder. Mit den Erinnerungen an die Holzeisenbahn und die Loks der Rhätischen Bahn werden Erlebnisse aus Kindheit und Jugend wach. «Zugefallen» ist auch ein Abenteuerbuch, ein Reisejournal und eine literarische Hommage an die Welt der Kultur und der Wissenschaft.

Jetzt wird im Lebensbuch ein neues Kapitel aufgeschlagen. Die «Solveig VII», die geliebte Motorjacht, die die Familie über zahllose europäische Flusskilometer und durch noch mehr Schleusen getragen hat, ist verkauft. Imboden hat mehr Zeit für eine weitere Leidenschaft. Das Schreiben. In der Schublade liegt ein noch unveröffentlichter Roman; ein zweiter ist in Arbeit.

Über den Felsen in der Bucht von Agios Nikolaos geht die Sonne unter. Dieter, neuerdings Belletrist, und seine Frau Sibyl, einst Ballettpädagogin, genehmigen sich noch einen Schluck Weisswein. Abseits vom globalen Chaos geniesst das Paar die letzten Ferientage im kleinen ­Peloponnes-Paradies.

Derweil erschüttern Kriege und Pandemien den Globus, Autokraten und Potentaten streben nach der Weltherrschaft, dem Klima droht der Kollaps. Dieter Imboden, Physiker, Mathematiker, emeritierter Professor für Umweltphysik, Ex-Präsident des Schweizerischen Nationalfonds und Mitbegründer des ETH-Studiengangs «Umweltwissenschaften» – er überlässt es nunmehr anderen, die Welt zu retten. «Ich bin froh», sagt er, «dass ich endlich mehr Zeit für meine Familie habe, für meine Frau, für die beiden Kinder – und für unsere Freunde. Zudem nehme ich die Gelegenheit wahr, mich dort einzubringen, wo ich etwas bewegen kann – zum Beispiel in der Küsnachter Gemeindepolitik.»

Es ist eine andere Gefahr, die den Professor derzeit umtreibt, eine schleichende Bedrohung, die still und leise die Säulen der Gesellschaft erodieren lässt: «Die Wahrheit», klagt Dieter Imboden, «sie steht zur Disposition.» Seit der ungebremste Durchmarsch sogenannt sozialer Medien im Internet Plattformen für ungeprüfte Posts anbietet, seit selbst künstlich intelligente Filtermechanismen vergeblich im Propaganda- und Fake- News-Misthaufen nach der wahren Nachricht fahnden, «ist die Glaubwürdigkeit in Gefahr – und zwar auf allen Ebenen: Politische Institutionen, die Kirchen, die Medien – und ja, auch die Wissenschaft drohen, der Lüge geopfert zu werden.»

Und so ist auch die Geschichte, die mit diesem Gedanken ihr Ende findet, ein bisschen Opfer der Lüge geworden – aber nur ganz am Anfang: Wahr ist, dass Dieter und Sibyl Imboden ihren Urlaub in Agios Nikolaos verbringen. Die Begegnung mit dem Autor allerdings fand nicht zufällig in der Hafenbeiz statt; sie war über Zoom arrangiert. Und die herbeigeschriebene Synchronizität leider nur Fake News.

Dabei wärs doch so ein schöner Zufall gewesen ...

 

Vernissage nach drei Jahren

Am Freitag, 17. November, 19.30 Uhr, wird Dieter Imboden im Kafi Carl an der Bahnhofstrasse 4 in Küsnacht Talk-Gast bei der Moderatorin Katja Reichenstein sein. Obwohl Imbodens Buch «Zugefallen» schon vor drei Jahren erschienen ist, ist die Veranstaltung so etwas wie eine inoffizielle Vernissage. Eine offizielle Vernissage ist der Pandemie zum Opfer gefallen.