Drei Stunden Freundlichkeit

Erstellt von Daniel J. Schüz |
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Anfang vergangener Woche entgleiste ein ZVV-Tram beim Bahnhof Stadelhofen. In der Folge musste die Forchbahn ihren Betrieb für drei Stunden
einstellen. Wie Peter Seiler, Kadermann bei der Forchbahn, die Situation rettete und aus der Not eine Tugend machte.

Innert Bruchteilen einer Sekunde wechselt Peter Seiler vom Small Talk auf den Notfallmodus.

Viertel vor zwei am Dienstag vergan­gener Woche am Bahnhof Stadelhofen: In drei Minuten fährt die S18 Richtung Forch.

Das Arbeitsessen im «Ambassador» mit Fachleuten aus der Gastro- und Tourismusbranche ist überstanden; jetzt hofft der 45 Jahre alte ÖV-Kadermann, der in der Geschäftsleitung der Forchbahn für den reibungslosen Ablauf des Betriebs verantwortlich ist, dass er den Zug noch erwischt. Doch schon nach wenigen Metern, als er beim Opernhaus um die Ecke biegt, erfasst er die Situation – und weiss, dass er sein Büro vorerst nicht mehr sehen wird.

Seiler greift zum Handy. «Am Stadelhofen geht gar nichts mehr. Schickt keine Züge mehr herunter», weist er die Leitstelle an. Ein 15er-Tram sei entgleist, es blockiere die Weiche. «Jeder Zug, der jetzt noch runterkommt, kann nicht mehr rauf!»

Dann holt er die orange Weste aus der Aktentasche und verwandelt sich vom Passagier in einen Krisenmanager. Obwohl das entgleiste Tram unübersehbar neben der Schiene und quer zur Fahrtrichtung der S18 steht, ist die wartende Forchbahn nahezu voll besetzt. Erst auf die Durchsage des Wagenführers – «Aus technischen Gründen kann dieser Zug nicht mehr weiterfahren; wir bitten alle Fahrgäste, den Zug zu verlassen» – leeren sich die Waggons allmählich.

Pause für den Chauffeur

Seiler schickt den vorübergehend arbeitslos gewordenen Lokführer Richtung Kreuzplatz, damit der erst mal Pause machen kann, während er selbst neben dem Triebwagen den Reisenden erklärt, was ohnehin jeder sieht: «Dieser Zug kann nicht weiterfahren.»

«Aber ich habe keine Zeit», insistiert eine junge, unübersehbar hochschwangere Frau. «Ich habe einen Termin im Spital.» – «In welchem?» – «Zollikerberg.» – «Dann nehmen Sie am besten das 4er- oder das 2er-Tram zum Tiefenbrunnen und fahren weiter mit dem 910er-Bus.»

«Wie lange dauert das noch?», will ein älterer Mann wissen. «Das kann Stunden dauern!» – «Wann kommt der Ersatzbus?» – «Es gibt keinen Ersatzbus – leider!» – «Und warum nicht?» – «Weil das Tram so ungünstig steht, dass der Bus nicht durchkommt und auch nicht wenden kann.» – «Und wie komme ich jetzt nach Zumikon?» – «Wenn Sie es eilig ­haben, empfehle ich einen Zehn-Minuten-Spaziergang über die Kreuzbühlstrasse.» – «Bis zum Kreuzplatz?» – «Noch eine Haltestelle weiter. Sie müssen zum Hegibachplatz, weil der Zug erst dort auf das andere Gleis wechseln und die Richtung ändern kann.»

Kundenlenkung nennt man das im Eisenbahner-Jargon. Für Peter Seiler eine willkommene Gelegenheit, «Notfallszenarien, die wir regelmässig in Trainings üben, in der Praxis anzuwenden. Und so ergibt sich auch die Möglichkeit, mit den Fahrgästen ins Gespräch zu kommen.»

Eine ältere Dame und ein Mann im Rollstuhl wollen sich die mühseligen Umwege ersparen und beschliessen spontan, das Beste aus der Situation zu machen: Sie setzen sich an einen der ­Tische des Bistros am Stadelhoferplatz, er bestellt ein grosses Helles, sie hat Lust auf eine Lasagne – und so geniessen sie die Nachmittagssonne, schauen zu, wie der Mann von der Forchbahn den Reisenden immer wieder dasselbe erzählt, während ein Feuerwehrauto vorfährt; tatsächlich handelt es sich aber um einen für Notfälle umgebauten Einsatzwagen der VBZ, deren Spezialisten bereits bäuchlings vor dem Tram liegen und sich am mittleren Drehgestellt zu schaffen machen.

Drei Stunden später gelingt es nach mühseliger Millimeterarbeit und mithilfe dünner Eisenplatten, das 30 Tonnen schwere Tram wieder einzugleisen.

Der 15er rollt, als sei nichts geschehen, ins Depot, wo das entgleiste Drehgestell einer gründlichen Kontrolle unterzogen werden muss. Und auch die Forchbahn setzt sich endlich wieder in Bewegung.

«Liebe Fahrgäste», tönt es aus dem Lautsprecher. «Wir begrüssen Sie herzlich in der S18 Richtung Forch und Esslingen.» Manch einem fällt auf, dass dies nicht die übliche automatisierte Durchsage ist. «Leider haben wir wegen einer Störung am Bahnhof Stadelhofen den Betrieb vorübergehend einstellen müssen. Wir bedauern die damit verbundenen Unannehmlichkeiten, entschuldigen uns für die allfällig entstandenen Umtriebe und danken Ihnen herzlich für ihre Geduld!»

Es ist die Stimme von Peter Seiler, der den ganzen Nachmittag damit verbracht hat, die gestrandeten Passagiere mit ausgesuchter Freundlichkeit zu vertrösten. Jetzt lässt er es sich nicht nehmen, die befreite Tante Frieda Richtung Küsnachterberg zu führen.

Hinter ihm nur entspannte Gesichter. «Merci auch!», sagt einer. Und eine junge Frau klatscht Beifall.