Die magischen Momente im Leben 

Erstellt von Daniel J. Schüz |
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Als Webdesigner programmiert und gestaltet der Küsnachter Flavio Meroni elektronische Visitenkarten. Als Sportler und Familienvater setzt er sich mit viel Leidenschaft für eine bessere Welt ein. In unserer Sommerserie 2022 über Menschen in und um Küsnacht macht er den Anfang.

Am frühen Morgen stellt sich einer dieser magischen Momente ein, die nur unzulänglich in Worte gefasst werden können.

Über dem Pfannenstiel glüht dieser Lichtschein auf, der den ersten Sonnenstrahl ankündigt. Der See erwidert den himmlischen Glanz, noch stört kein Kursschiff das spiegelglatte Wasser. Lautlos und synchron tauchen die Ruderblätter ein, die sanft dosierte Kraft der Oberschenkel stemmt den Rollsitz gegen die Fahrtrichtung.

Der Küsnachter Flavio Meroni sitzt im schmalen Einmann-Rennruderboot und absolviert seine wöchentliche Trainingseinheit: Erlenbach–Meilen–Erlenbach, jeden Samstagmorgen. Er konzentriert sich auf den technisch perfekten Bewegungsablauf, nimmt die Kraft des Wassers wahr, das ihn trägt; er atmet die frische Morgenluft und spürt, wie der See, der Himmel, das Ufer und der Carbon-Rumpf seines Skiffs eins werden. «Die Ruder sind meine verlängerten Hände, sie heben mich aus dem Wasser; aus Gedanken werden Wachträume: Ich fliege über den See – und bin im meditativen Flow.»

Wenn der Sport unverhofft derlei Glücksgefühle auslöst, ist er da – der magische Moment.

Jenseits der Norm

Es geht allerdings auch ohne sportlichen Ehrgeiz. Zauberhafte Bilder und unvergessliche Erlebnisse prägen die Biografie eines Mannes, der vor wenigen Wochen seinen 51. Geburtstag feierte. Er ist einer, der sich viel und gerne – und immer wieder auch mal jenseits der Norm – bewegt, gelegentlich auch mal aus der Reihe tanzt und doch stets durch und durch normal geblieben ist: Flavio Meroni – ein begnadeter Künstler, liebevoller Familienvater, engagierter Hundehalter, begeisterter Outdoorsportler, kreativer Webdesigner, erfahrener Art- und Creativ-Direktor.

Was auch immer er anpackt – er tut es mit der Leidenschaft eines Perfektionisten auf der Suche nach jener Vollkommenheit, die zwangsläufig unerreichbar bleibt. «Die Familie, der Sport und der Job nehmen mich so in Anspruch», bedauert er, «dass die Musik leider zu kurz kommt; eigentlich würde ich gerne mehr Klavier spielen.»

Das grau melierte, im Nacken zum trendigen Dutt zusammengebundene Haar erinnert noch entfernt an die ungezähmte Pracht der Jugend: Als Teenager liess Flavio die schwarzen Dreadlocks «bis zum Füdli abe» wachsen. Als zweites von vier Geschwistern wuchs er in Oberrieden auf. Sein Vater war ein engagierter Reprofotograf und ein grosser Tierfreund. «Er hatte unser Haus rund um das Atelier mit einer gigantischen Kamera ausgerüstet», erinnert sich Flavio. «Und rund um das Haus wimmelte es nur so von allerlei Getier: Wir hatten Kaninchen, Zwerggeissen, Laufenten, Hühner, Schafe, eine Gans  – und Lumpi, den Esel, um den ich mich kümmerte. Ich spannte ihn vor einen Karren, gemeinsam fuhren wir ins Dorf, um Futter für die anderen Tiere zu kaufen. Am Abend hockte ich dann zwischen den friedlich mampfenden Tieren und nahm diese ganz besondere Gemeinschaft als vollkommenes Glück wahr.»

Das war zweifellos einer der ersten magischen Momente, an die sich Flavio Meroni erinnern kann.

Der entscheidende Anruf

Von den vielen, die diesem folgten, fällt ihm spontan eine Situation ein, die sich wie ein unverhoffter Ritterschlag anfühlte. Flavio war gerade mal 23 Jahre alt, er hatte eine Lehre als Grafiker, das Studium an der Zürcher Kunstgewerbeschule – wie die heutige Hochschule der Künste damals noch hiess – sowie die Radfahrer-Rekrutenschule abgeschlossen und sich auf die Suche nach ­einem Job gemacht, als das Telefon läutete: Es war die GGK Zürich – damals die renommierteste Werbeagentur weit und breit. Ob er eine Stellvertretung übernehmen und vielleicht auch gleich morgen früh anfangen könne. Es dauerte nicht lange, bis Flavio Meroni selbst auf dem Stuhl des Art Director sass. Jahre später gründete er mit zwei Partnern die Agentur BMB – wobei das M in der Mitte für Meroni steht – und lancierte landesweite Kampagnen, von denen wohl jene für den Schweizer Käse ist noch bestens in Erinnerung ist: Im Fokus das Loch, das Nichts mit dem Rand drum herum. Man kennt sie, die Schweizer Löcher: Da ist der Tunneleingang, der weit geöffnete Mund des Jodlers und auch der Trichter am Ende des Alphorns. Das beste Schweizer Loch allerdings ist jenes mit dem Emmentaler Käse drum herum.

In all den Jahren hat sich Flavio Meroni gewissermassen ein doppeltes Netzwerk aufgebaut – einen treuen Kundenstamm einerseits, andererseits eine Reihe zuverlässiger Mitarbeiter; beide erlauben ihm, sich selbstständig in der digitalen Werbewelt durchzusetzen. «In dieser dynamischen Branche ist es wichtig, dass man am Puls der Zeit bleibt. Eine gute Website ist heute die wichtigste aller Visitenkarten – und die funktioniert nur, wenn die Technik des Programmierers und die Kreativität des Webdesigners eine Einheit bilden. Darum mache ich heute beides.»

Nach sechs Jahren löste sich die BMB-Partnerschaft auf der beruflichen Ebene in Wohlgefallen auf; lange zuvor allerdings hatte sich auf der emotionalen Ebene eine Verbindung angebahnt, die seit einem Vierteljahrhundert Bestand hat, sozusagen unter dem Kürzel BM – wie Bader-Meroni.

Damals hatte Flavio einen Cousin besucht, der zusammen mit einer gewissen Nava Bader eine Wohngemeinschaft gegründet hatte. «Diese Frau war unglaublich charmant und sexy», erinnert sich Flavio Meroni. «Sie war so weltoffen, hat eine US-amerikanische Mutter, einen israelischen Vater – und wir führten auf Anhieb tiefschürfende Gespräche. Ich war hin und weg.»

Es war wieder einmal einer dieser magischen Momente. Ihm folgten bald schon zwei weitere: Vor 23 Jahren kam Finn auf die Welt, die älteste Tochter, zwei Jahre später deren Schwester Ruby. Was ist schöner und geheimnisvoller als die Geburt eines Menschen?

Zu Navas 30. Geburtstag fasste Flavio sich ein Herz und steckte ihr einen Ring an den Finger: «Da steht was drin!» Und sie las: «Will you marry me?» – «Ja!», strahlte Nava, «ich will dich heiraten!» Und dabei ist es dann geblieben. «Wir haben einfach keinen passenden Termin gefunden», lachen beide. Und Flavio meint: «Unsere drei Kinder sind viel verbindlicher als jeder Ehevertrag!»

Der dritte, Ronan, kam drei Jahre später als Nachzügler auf die Welt – eine Welt, die heute zusehends aus den Fugen zu geraten droht.

Die Verantwortung, die Flavio Meroni als Vater wahrnimmt, und die Sorge, die ihn angesichts der aktuellen weltweiten Krisen umtreibt, sind zwei Seiten derselben Medaille. Die globale Lösung sieht er bei der Gesellschaft: «Wenn wir vernünftig wirtschaften und uns vegan ernähren, wäre unser Planet in der Lage, die Menschheit so zu ernähren, dass alle nicht nur satt werden, sondern auch gesund bleiben. Das ist allerdings nur dann möglich, wenn alle zusammenspannen, die Politik und die Wirtschaft – und damit meine ich die Landwirtschaft ebenso wie die Werbewirtschaft.» Und das beginnt bei jedem Einzelnen: «Ich möchte Finn, Ruby und Ronan für die Verletzlichkeit und die Schönheit der Natur sensibilisieren.» Darum unternimmt er mit seinen Kindern tagelange Wanderungen ins Hochgebirge: «Solche Erlebnisse schweissen uns zusammen. Die Kinder sehen selbst, wie die Gletscher verschwinden – und sie lernen, respektvoll und achtsam mit unseren Ressourcen umzugehen.»

Leben und Tod nahe beieinander

Die Erfahrung, wie nahe in den Bergen Leben und Tod beieinander sein können, machten Flavio und seine Kinder im August 2014: Damals hatten sie in der SAC-Hütte Scaletta bei der Greina-Ebene einen Wanderer kennen gelernt, der am nächsten Morgen mit dem Rettungsheli­kopter abtransportiert werden musste – er hatte den Herzinfarkt nicht überlebt.

Exakt vier Jahre später war Flavio Meroni bei den Giessbach-Fällen im Berner Oberland unterwegs, als ihm eine Frau aufgeregt entgegenlief: «Dort unten liegt jemand im Wasser!» Meroni eilte das enge Tobel hinunter und entdeckte bald schon die Frau, die abgestürzt war und sich mit letzter Kraft zwischen zwei Wasserfällen an einen Felsen klammerte und sich gegen die Strömung stemmte; wenige Meter hinter ihr stürzte der Wasserfall über hundert Meter in die Tiefe. Zum Glück hatte Meroni im Rucksack mehrere Kleidungsstücke verstaut, die er miteinander verknoten und zu dem Opfer hinablassen konnte. Wenige Monate später wurde Meroni von der Schweizerischen Lebensrettungs-Gesellschaft mit einer Medaille ausgezeichnet. Von der Frau, die er aus dem eiskalten Wasser gezogen hatte, hat er nie mehr etwas gehört.

Vor zwei Wochen, als der Ruderclub Erlenbach mit dem Vierer auf dem Rotsee zur Schweizer Meisterschaft antrat, sass Flavio Meroni nicht mit im Boot: Die ganze Familie war nach Schottland gereist, wo Tochter Finn den Abschluss ihres Geschichts- und Soziologiestudiums feierte. Und so wurde Flavio Meroni nur bei der Live-Übertragung am Handy Zeuge, wie sein Boot auf der 1000-Meter-Distanz den Titel gewann. Er schluckte einmal leer und sagte dann ganz tapfer: «Meine Tochter ist wichtiger als der Schweizer-Meister-Titel!»

Das war der vorerst letzte in einer langen Reihe magischer Momente.

 

Als Nächstes: Petra Schweinhardt

Dies ist die erste Folge unserer Sommer-Stafette. Dabei bestimmt jede porträtierte Person, wer ihr Nachfolger sein soll. Die Nächste ist Petra Schweinhardt, Professorin der Medizin und Schmerzforscherin; sie leitet am Universitätsspital Balgrist die Abteilung Chiropraktik.