Wenn morgen in Luzern das berühmte Bourbaki-Panorama frisch renoviert wieder eröffnet wird, hält sich Christian Marty bescheiden im Hintergrund – mit gemischten Gefühlen: Vierzig Jahrelang hat der Küsnachter Konservator das monumentale Rundgemälde betreut und gepflegt. Jetzt lässt er es in neuem Glanz erstrahlen. Und legt die Verantwortung bald einmal in jüngere Hände.
Les Verrières, in den ersten Februartagen 1871: Von Frankreich her bewegt sich eine schier endlose Kolonne von Soldaten auf das Grenzdorf im Neuenburger Jura zu. Hunger und Erschöpfung, Angst und Verzweiflung sprechen aus bleichen Gesichtern. Viele der rund 30 000 Männer können kaum noch gehen, manche humpeln an Krücken; andere kauern, vom Schmerz gekrümmt, am Strassenrand. Da vorn liegt einer neben dem Kadaver eines ausgemergelten Gauls sterbend im Schnee. Ein Sanitäter erteilt ihm die letzte Ölung.
Das Bourbaki-Panorama ist, wenn man genau hinschaut, nichts für zart besaitete Gemüter. Aber es ist, wenn man den Blick rundum schweifen lässt, auch ein kulturhistorisches Monument von epochaler Bedeutung. Über der verschneiten Jura-Hochebene wird im Morgengrauen eine geheimnisvolle Magie spürbar. Und man fragt sich, was das ist.
Es ist das Licht.
Blutrot glüht der Himmel über dem westlichen Horizont. Dort, irgendwo hinter den Hügelzügen, liegt Pontarlier. Dort ist die Armee des französischen Generals Charles Bourbaki von deutschen Truppen eingekesselt und aufgerieben worden. Von dort kommen sie her, aus Frankreich – aus dem Krieg. Zartrosa leuchtet der Himmel im Osten. Bald legt die Wintersonne ihr fahles Licht auf die Jura-Hochebene. Und über das ganze Land. Da wollen sie hin, in die Schweiz – in den Frieden.
Die Illusion des Optischen Apparates
Mittendrin, gleichsam auf der Landesgrenze zwischen Feuerschein und Dämmerlicht, in Tat und Wahrheit auf der Besucherplattform, die wie ein Feldherrenhügel das Geschehen überragt, ist am vergangenen Mittwoch ein Mann gestanden, dem jeder Pinselstrich auf tausend Quadratmetern Leinwand vertraut ist.
Christian Marty, der in Küsnacht mit seiner Lebenspartnerin Petra Helm das Restaurierungsatelier «Ars Artis» betreibt, widmet sich seit vierzig Jahren dem Erhalt und der Pflege dieses einzigartigen Kulturguts. Ungeachtet seiner 68 Lebensjahre wirkt der Konservator und Denkmalpfleger wie ein Bub vor der Weihnachtsbescherung, während er den Blick nach oben richtet – dorthin, wo sich langsam ein düsterer Himmel entfaltet.
Wie das Chapiteau eines Zirkus spannt sich eine 1600 Quadratmeter grosse, aus feuerfesten Fasern gewobene Blache über das Panorama. «Das ist unser neuer Baldachin», strahlt Marty. «Man könnte sagen: So etwas wie ein künstliches Firmament. Wenn der Himmel dort oben hängt, ist die Renovation des Optischen Apparates abgeschlossen.»
Optischer Apparat?
Es geht um das Licht.
Mausgrau, trichterförmig, kreisrund und nahezu nahtlos verbindet der Baldachin an der oberen Begrenzung des knapp zehn Meter hohen, gut hundert Meter langen Panorama-Gemäldes den Horizont mit dem Himmelsgewölbe. Er ist das grösste und wichtigste Element dieses Optischen Apparates. Andere Installationen bleiben, für das Publikum unsichtbar, hinter dem Baldachin verborgen – das Velum etwa, ein zylindrischer Vorhang, der aus der Dachkuppel einfallendes Sonnenlicht bündelt, oder die sechzehn Sonnensegel, die dieses Licht, quer zu den Sonnensegeln aufgehängt, streuen.
«Damit können wir Schlagschatten vermeiden», erläutert Marty die trickreichen Installationen. «Zudem ist die alte Natrium-Halogenbeleuchtung durch 64 energiesparende und dimmbare LED-Leuchten ersetzt worden. Kombiniert mit dem indirekt einfallenden Tageslicht steuert der Optische Apparat die atmosphärische Stimmung, er stützt die Illusion der Dreidimensionalität.»
Eine ganze Armee wird entwaffnet
Was allerdings nur bedingt zutrifft: Auch das sogenannte Faux terrain ist ein Bestandteil dieses Optischen Apparates – und es ist, weil in allen drei Dimensionen durchaus real, nicht mehr wirklich nur eine Illusion: Rund um die Besucherplattform geht das vertikale Gemälde direkt in eine horizontale Ebene über und wird als schneebedecktes Land zur dritten Dimension.
Der Eisenbahnwaggon und das Gleis sind zwar Attrappen, aber nicht mehr nur, wie der andere Waggon, auf die Wand gepinselt. Die beschlagnahmten Gewehre, die – neben jenen auf der Leinwand – aufgestapelt wurden, sind authentische, seinerzeit hochmoderne Hinterlader. Und die finsteren Gestalten, die in kleinen Gruppen beieinanderstehen, sind in historische Uniformen gekleidete Soldatenfiguren.
Dieses Faux terrain hat die Restaurierungsarbeiten mit unvorhergesehenen Problemen konfrontiert: Für die Montage des Velums sowie der Sonnensegel hätten entlang der oberen Leinwandbegrenzung Gerüste montiert und alle Requisiten der dritten Dimension abgebaut werden müssen – ein unverhältnismässig grosser Aufwand.
Die Lösung war ebenso simpel wie spektakulär: Drei auf professionelle Industriekletterei spezialisierte Monteure verschraubten die hinter dem Baldachin verborgenen Elemente des Optischen Apparates mit der Aufhängung. So ist dem Panorama eine weitere Dimension angefügt worden: Männer, die an langen Seilen hängend über der Hochebene baumeln.
Sie gehören zu einem runden Dutzend hoch spezialisierter Fachkräfte, die während fünf Wochen mit einem Budget von 800 000 Franken das Panorama mit dem Optischen Apparat ins rechte Licht gerückt haben. «Die Pflege eines solchen Kunstwerkes ist mit mehr Aufwand verbunden als die kreative Leistung des Malers», sagt Christian Marty. «Mein Geschäft ist das Restaurieren, allenfalls die Wissenschaft, aber ein Künstler – nein, das bin ich nicht.»
Aus den Helden sind Opfer geworden
Eines haben Edouard Castres und Christian Marty gemeinsam: Sie führten das Kommando über eine kleine Experten-Truppe, die nach ihren Ideen, Skizzen und Anweisungen ein Werk gestalten und erhalten, das seit 150 Jahren Bestand hat. Castre hat das Elend der besiegten Bourbaki-Armee mit eigenen Augen gesehen.
Als hinter dem Jura der Deutsch-Französische Krieg tobte und ruchbar wurde, dass die Bourbaki-Armee nach einer blutigen Schlacht in die Flucht geschlagen worden war und 8 7 847 Mann – die Archive des Roten Kreuzes, das acht Jahre zuvor erst gegründet worden war, sind da sehr präzise – sich auf die Schweiz zu bewegten, da meldete sich der Genfer Künstler als freiwilliger Rotkreuz-Helfer, um die flüchtenden Überlebenden zu pflegen. In den Tornister hatte er auch sein Skizzenheft gepackt.
Es dauerte nahezu zehn Jahre, bis Castre, assistiert von weiteren Kunstmalern – unter ihnen Ferdinand Hodler, der sich an der Spitze des Berner Bataillons verewigt hat –, seine Skizzen auf die Panorama-Leinwände übertragen und der Öffentlichkeit vorgestellt hat. Wie lässt sich die Faszination des Bourbaki-Panoramas erklären? Liegt es wirklich nur am Licht?
«Nein», sagt Christian Marty, der den Optischen Apparat schon vor 25 Jahren konzipiert hat. «Es ist nicht nur das Licht. Anders als bei vielen Panoramagemälden von historischen Schlachtfeldern sind die Bourbaki-Soldaten keine Kriegshelden. Sie sind Opfer. Die Helden sind die Menschen, die sie in Empfang nehmen und ihre Wunden behandeln.» So gesehen ist die Botschaft, die Edouard Castre vor 150 Jahren auf die Leinwand brachte, brandaktuell – es ist das Gebot der Menschlichkeit.