Die lange Reise von den Maschinen zu den Menschen

Erstellt von Daniel J. Schüz |
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Für die Küsnachter Kirchgemeinde leitet Dominik Dozza das ökumenische Pfarreilager in Davos, für die politische Gemeinde betreut er Jugendliche in kommunalen Freizeitzentren. Dabei hat er doch eigentlich Maschinen konstruieren wollen.

Sie werde, sagte die alte Frau, von Wasser umgeben sein, wenn sie dereinst aus der Welt gehe – «und dieses Wasser ist mein ­geliebter Zürichsee ...»

Dominik Dozza hat die Worte seiner Mutter unauslöschlich im Gedächtnis abgespeichert. Allerdings hat er damals, vor zwei Jahrzehnten, nicht ahnen können, dass es sich um eine Prophezeiung handelte, die sein Leben radikal verändern und ihn zurückführen sollte zu den Wurzeln der Jugend.

Abschlusstag im Lager

Pfarreilager in Davos am letzten Juli-Wochenende: Im Gruppenhaus Waldschlössli komponiert die Küchenmannschaft die Wochenreste aus Curry-Pouletgeschnetzeltem, Risi-Bisi und Chili con Carne zu einem abenteuerlichen Mittagsmenü für nahezu eine Hundertschaft hungriger Mäuler. Am letzten Tag des traditionsreichen Ferienlagers ist die letzte Ausgabe des ziemlich professionell redigierten «Lager-Anzeigers» erschienen. Und unten, auf der grossen Wiese im Kurgarten der Alpenmetropole, vergnügt sich ein Grossteil der Küsnachter Jugend – unter ihnen allerlei raffiniert kostümierte, bunt geschminkte Ritter, Schlümpfe, Prinzessinnen und andere Fantasy-Kreaturen – beim ausgelassenen Scharadespiel. Schliesslich versammeln sich 48 sieben bis fünfzehn Jahre alte Kids und Jugendliche zum Gruppenfoto. Den Lagerleiter haben sie in ihre Mitte geholt.

Dominik Dozza hat die Leitung des Pfarreilagers gemeinsam mit Kim Wyder übernommen, die während der Fussball-EM das Public Viewing in der Küsnachter Freizeitanlage Sunnemetzg betrieben hat und vor Monatsfrist an dieser Stelle im Stafettenporträt vorgestellt worden ist. Für ihn hat sich mit dieser Aufgabe ein grosser Zeitkreis geschlossen. Man könnte auch sagen: Nach nahezu einem halben Jahrhundert hat sich das Hin und Her zwischen sozialem Engagement und wirtschaftlicher Karriere, aber auch das familiäre Auf und Ab zwischen Freud und Leid stabilisiert.

Vor fünfzig Jahren kam Dominik als Sohn des Bauunternehmers Vincenzo Dozza und dessen Frau Gertrud, der Schwester des Weingutpioniers Gottfried Welti, in Küsnacht zur Welt. 1985, mit elf Jahren, nahm er zum ersten Mal an einem Pfarreilager teil. Die unbeschwerten Tage zusammen mit anderen Kindern in der frischen Bergluft waren für ihn damals schon sehr viel mehr als nur eine Ferienlagerwoche. Dominik, der von der Mutter in reformiert-christlicher Tradition erzogen wurde, zugleich aber auch am katholisch inspirierten Lagerleben Gefallen fand, liess sich vom Geist der Ökumene inspirieren. «Gott war und ist für mich de­finitiv schon immer ein Thema», sagt er heute. «Dieser Gott ist weder katholisch noch reformiert; er ist nicht männlich und auch nicht weiblich. Gott ist eine über­irdische Energie, die sich in Worten nicht fassen, aber über das Wunder der Natur erahnen lässt.»

Musik stand zuvorderst

Zunächst allerdings waren für den heranwachsenden Teenager ganz andere Themen angesagt – allen voran die Musik: Mit Daniel Franzen am Piano – er ist unterdessen Chefarzt am Spital Uster und wird in der nächsten Ausgabe an dieser Stelle vorgestellt – und drei weiteren Schulfreunden gründete Gittarist Dominik die Mundart-Rockband Xotnix. Ausgedeutscht und ­augenzwinkernd steht die Mundart-Phonetik dieses Namens für «Gesottenes». Und mit dem Clip zum Song «Ritter» bringen die Küsnachter Rocker ihre Heimatverbundenheit zum Ausdruck: In mittelalterlichem Outfit ziehen sie musizierend durchs Küsnachter Tobel und lassen sich in den Ruinen der Wulp von einem blonden Burgfräulein verzaubern. Man ahnt es schon: Auch hier spielt Kim Wyder eine zentrale Rolle.

Auch die zweite grosse Leidenschaft des Dominik Dozza kommt geräuschvoll daher – allerdings deutlich weniger melodisch: Der Teeneger liebt es, auf seinem Töffli durchs Dorf zu knattern – und noch lieber bastelt er am Motor herum. Hin- und hergerissen zwischen dem Bedürfnis, sich in der Sozial- und der Jugendarbeit zu engagieren, und der Faszination, die Motoren und deren technische Raffinessen auf ihn ausüben, schliesst er eine Lehre als Maschinenmechaniker ab, worauf es ihn zunächst in die Ferne zieht. Doch bald schon treibt das Heimweh ihn von Kanada zurück nach Küsnacht. Dominik besinnt sich auf sein christlich-soziales Gewissen, absolviert ein Praktikum in einem ökumenisch orientierten Kinderheim und lässt sich von der Kirche als Jugendarbeiter einstellen.

2001 will er es noch einmal wissen: Mit 27 Jahren wechselt der gelernte Maschinenmechaniker zurück in die Industrie, er lässt sich weiterbilden zum Konstrukteur und folgt alsbald dem Lockruf in die Privatwirtschaft: Seine Kompetenz, geplante Geräte und Maschinen nicht nur den Bedürfnissen der Kundschaft anzupassen, sondern sie gleich auch entsprechend anzufertigen, eröffnet neue Möglichkeiten: Der Wirtschaftsmotor brummt, und das Geschäft blüht. Vorerst.

Familie und Schicksalsschläge

Auch in der privaten Lebensplanung stehen die Zeichen bald schon auf Glück und Beständigkeit: Dominik und Nicoletta finden zueinander, 2005 schliessen sie den Bund der Ehe, noch im selben Jahr kommt Romy zur Welt, ihre erste Tochter; zwei Jahre später folgt Sohn Saro. Nesthäkchen Gemma, heute zwölfjährig, macht das Trio komplett. Längst ist auch sonnenklar, dass die Kinder den Papi begleiten und unterstützen, wenn er die Verantwortung für das Pfarreilager übernimmt.

Da ist aber auch noch seine technisch-mechanische Leidenschaft: Und mit diesem Standbein wagt Dominik im Sommer 2008 den grossen Schritt in die Selbstständigkeit: Er eröffnet sein eigenes Maschinenkonstruktionsbüro. Doch schon wenige Wochen später erfasst die bis heute unvergessene und in ihrer Tragweite unerreichte Weltwirtschaftskrise auch Dozzas vielversprechendes Start-up-Unternehmen. Die Aufträge brechen ein, einer nach dem anderen; mit geduldigem Optimismus hält sich Dominik mehr schlecht als recht über Wasser, ein ganzes Jahr lang – bis ihm nur noch ein Kunde geblieben ist – ein letzter Auftrag ...

Und dann bricht – nach dem globalen Wirtschaftsdesaster – die private Tragödie über ihn herein.

Am späten Vormittag des 24. August 2009 holt Dominik seine 76 Jahre alte Mutter beim Arzt ab; ein kleiner Tumor hat bestrahlt werden müssen. Ob sie denn überhaupt ins Wasser könne, will der Sohn noch wissen. «Alles gut», beruhigt der Arzt. «Ihre Mutter darf und kann alles tun, was ihr Spass macht.»

Spass hat sie eigentlich immer, wenn sie in ihren geliebten Zürichsee steigen kann.

Dominik winkt der Mutter noch zum Abschied zu und schaut ihr nach, wie sie über den Steg zum Sprungbrett geht, bevor er ins Büro fährt, wo die Arbeit längst ausgegangen ist. Da läutet auch schon das Telefon. «Ihre Mutter, Herr Dozza – kommen Sie sofort zum Bad Sträme!»

«Sie war ein Wassermeitli», erinnert er sich. «Auf ausgedehnten Wanderungen im Gebirge hat sie keinen Bergsee ausgelassen – und ist er noch so eiskalt gewesen. Wenn sie an einen Wasserfall geriet, nahm sie eine Dusche. Das Wasser war ihr Element – und der Zürichsee ihre Badewanne.»

Nein, ertrunken sei sie nicht, wird man ihm versichern – wie auch, sie war doch eine so gute Schwimmerin. Ein heftiger Schlaganfall habe sie getroffen, jede Hilfe sei zu spät gekommen. Wenigstens habe sie nichts gemerkt ...

Aber sie hat es gewusst, denkt Dominik. Sie hat schon lange gewusst und es auch angekündigt: In ihrem geliebten Zürichsee würde sie in die Ewigkeit schwimmen.

Gertrud Dozza und Vincenzo waren da längst schon auseinander und eigene Wege gegangen. Für den Sohn eine tröstliche Erkenntnis: «So gespannt das Verhältnis zum Vater gewesen ist, der sich stets als Patriarch gebärdet hatte, so innig und warm waren meine Bande zur Mutter.»

Der letzte Auftrag ist liegen geblieben: Drei Monate lang habe er keinen Finger rühren können, erinnert sich Dominik an die Zeit der Trauer. «Ich habe mich in einer konstanten Schocklähmung befunden.»

Und dann, als er wieder zu sich gefunden hatte, erkannte er plötzlich glasklar, wohin die Reise gehen würde – weg von Maschinen, die konstruiert, und Terminen, die eingehalten werden wollten, und hin zu den jungen Menschen, die Verständnis und Liebe brauchen. Bis heute ist Dominik Dozza überzeugt, dass die Mutter es war, die ihn auf den rechten Weg gebracht hat – auf den Weg, der in die Sozialarbeit und in die Freizeitbetreuung der Küsnachter Jugend führt.

Am 24. August jährt sich Getrud Dozzas Reise zum Regenbogen zum 15. Mal. Vielleicht wird Dominik dann auf dem Friedhof der reformierten Kirche die Giesskanne mit Wasser aus dem Zürichsee füllen und die Blumen auf dem Grab der Mutter nähren ...

«Eine schöne Idee», lächelt er. «Aber das werde ich gewiss nicht tun. Denn es geht nicht um den Tag und auch nicht um das Grab. Es geht um die Verbundenheit im Herzen und im Gebet. Und da hab ich mein eigenes Ritual.»