Die Auferstehung der Liebe

Erstellt von Daniel J. Schüz |
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Katharina Hoby, Spitalseelsorgerin in der Zürcher Hirslanden-Klinik und Frau des Küsnachter Gemeindepfarrers Andrea Marco Bianca, blickt zurück auf Tage, die entscheidende Weichen in ihrem Leben stellten.

Katharina Hoby schaut aus dem Küchenfenster – und einmal mehr wird ihr warm ums Herz. Das liegt nicht an der Aussicht auf den Garagenvorplatz, eher schon an den zwanzig Fotos auf dem Fenstersims. Vor allem aber liegt es an einem kleinen unscheinbaren Bild, das zwischen den lachenden Gesichtern von Kindern und Verwandten beinahe verschwindet.

Es ist kein Foto, auch keine Menschen sind zu sehen. Eine Zeichnung: Vor dem Fenster hockt, wiederum auf einem Fenstersims, ein tierisch ulkiges Paar. Versunken in inniger Kontemplation überblicken eine zarte schwarz-weisse Kätzin und ein kugelrunder roter Kater die Dächer der Zürcher Altstadt. Hinter ihnen ragen zwei Kirchtürme in den Himmel, unverkennbar die schlanke Predigerkirche und der dicke St. Peter. Auf der Rückseite englische Vokabeln, die die ewige Liebe beschwören:

«I have this feeling still deep in my ­heart: We belong to each other and for­ever we will not be apart.»

Darunter ein Name: Andrea. Und ein Datum:

Mittwoch, 4. April 1984

«Tief in meinem Herzen habe ich noch immer dieses Gefühl: Wir gehören zueinander und wir werden nie getrennt sein.»

Auf den ersten Blick hätten die besinnlichen Worte des Theologiestudenten Andrea Marco Bianca als romantisches Versprechen für die Zukunft aufgefasst werden können; tatsächlich war das Bild mit dem verträumten Katzenpaar ein Abschiedsgeschenk, das sich aus heutiger Sicht als weise Prophezeiung erweist. «Nach bald vierzig Jahren», bekennt die Pfarrerin, die auch mit 61 Jahren ihre jugendliche Ausstrahlung nicht verloren hat, «haben wir uns noch immer nicht ­einigen können, wer von uns die Katze verkörpert und wer den Kater.»

Tatsächlich?

Wirklich wahr, beteuert sie und erzählt, wie sie sich schon in jungen Jahren  – Katharina war das zweitälteste von sechs Kindern – nicht habe festlegen wollen, ob sie ein Mädchen sein wollte oder doch lieber ein Bub. Eigentlich, räumt sie ein, habe sie sich jahrelang als Wildfang gebärdet und zum Verdruss ihrer Eltern  – der Vater bekleidete in Bachenbülach das Amt des Dorfschulmeisters und die Mutter war seine Stellvertreterin – alles verabscheut, was Mädchen toll fanden. Statt Röcke trug sie Jeans, statt Zöpfe kurze Haare; statt in die Handsgi ging sie in den Wald und paffte Nielen, als Anführerin einer «richtig bösen Buebe-Gang» verbreitete sie «Angst und Schrecken» im ganzen Quartier, «und am Mittwochnachmittag machten wir uns einen Spass daraus, die Typen vom Nachbardorf zu verhauen».

Bachenbülach, Sonntag, 13. Juni 1971

Die fünfte Schwangerschaft der Mutter endet, weil die Medizin noch keine Ultraschall-Bildgebung kennt, mit einer Überraschung: Nach der Geburt des ersten Babys macht sich noch ein zweites auf den Weg in die Welt. Die beiden jüngsten Geschwister sind ein gemischtes Zwillingspaar: Ueli und Martina. Und da vollzieht sich mit der grossen Schwester – sie ist gerade mal neun Jahre alt – eine wundersame Wandlung: Katharina geniesst das uneingeschränkte Vertrauen ihrer Mutter, sie darf die Zwillinge betreuen, muss Verantwortung übernehmen. Endlich nimmt sie ihre Weiblichkeit wahr, entwickelt gar mütterliche Gefühle. Sie weiss jetzt sehr genau, dass sie selbst Mutter werden und eine grosse Kinderschar aufziehen möchte – so wie ihre eigene Mutter.

Mit der Berufswahl steht nach bestandener Matura eine Entscheidung an, die ihr alles andere als leichtfällt. Das Medizinstudium wäre eine Möglichkeit. Oder, wie ihre Eltern, das höhere Lehramt. Doch am liebsten möchte sie hoch hinaus, die Welt erkunden, den Himmel erobern. Und so beschafft sie sich schon mal Unterlagen für die Ausbildung zur Flugbegleiterin. Die Eltern sind entsetzt: «Unsere Katharina – eine fliegende Serviertochter? Um Gottes willen – nein! Kind, überleg dir diesen Entscheid reiflich!»

Lenzerheide, Dienstag, 13. Oktober 1981

Die Zwillinge haben ihren zehnten Geburtstag längst hinter sich, als Katharina sich vom Grossvater den alten Volvo ausleiht und losfährt – allgemeine Richtung Berge. Sie will allein sein, weg von allem. Und ahnt nicht, dass der Tag gekommen ist, an dem das Schicksal einmal mehr die Weichen stellt.

Auf der Lenzerheide führt ein Wanderweg auf den Gipfel des Piz Scalottas, knapp tausend Höhenmeter, knapp drei Stunden. Ist zu schaffen. Weisse Schwaden wabern um die Flanken des Berges: Waschküchenwetter. Zwischendurch reisst die Nebelwand auf, öffnet ein blaues Fenster, in dem ein kleines Kreuz immer grösser wird. Und als Katharina endlich den Gipfel erreicht hat und den Blick über die herbstbunt leuchtenden Bündner Berge schweifen lässt, erkennt sie in dieser natürlichen Pracht Gottes Schöpfung. Und neben sich ein schlichtes hölzernes Gipfelkreuz mit der Botschaft: Dein Himmel heisst nicht Sky, der heisst Heaven.

An diesem Abend wird sie den Eltern eröffnen: «Ich möchte Theologie studieren und Pfarrerin werden.»

Bald schon – es war der erste Tag des ersten Semesters – hockt Katharina etwas verloren auf der Treppe hinterm Eingang zum Theologischen Seminar, als jene schwere Holztür, durch die einst schon Zwingli ein- und ausgegangen war, sich öffnet und ein junger Typ sie anstrahlt: «Ist hier das Kolloquium?» – «Ich glaub schon!» – «Und du willst wirklich Theologie studieren?» – «Warum nicht?» – «Wow!» – «Bloss das mit den alten Sprachen, Griechisch und Hebräisch büffeln, das macht mir Bauchweh.» – «Ach was, gemeinsam macht das sicher Spass.» 

Andrea und Katharina haben einander gefunden. Es ist der Beginn einer grossen Liebe, die – kein Zweifel – mindestens ewig währt. Allerdings tritt zugleich die Unvereinbarkeit ihrer Lebensentwürfe immer deutlicher zutage: Katharina träumt von «mindestens so vielen Kindern, wie wir auch zu Hause waren». Andrea sieht seine Zukunft in der Kirchenpolitik und in der theologischen Forschung.

Auf ihrer letzten Ferienreise wird der tunesische Mittelmeerstrand zum Schauplatz eines bewegenden Abschiedsrituals. Und nach der Rückkehr besucht er sie ein letztes Mal im Haus ihrer Eltern und legt ihr ein kleines Päckchen mit einem Bild in die Hand.

Bachenbülach, Sonntag, 4. April 2010

Ein Vierteljahrhundert lang haben sie ­einander weder gesehen noch gesprochen. Dann rief Andrea Katharina einfach an, nachdem er gehört hatte, dass sie wieder alleine war. 

Und jetzt, exakt 26 Jahre nach der Trennung, führt die mittlerweile berühmteste Pfarrerin des Landes den Küsnachter Gemeindepfarrer in ihr ehemaliges Kinderzimmer. Tränen füllen ihre Augen, als sie das Bild mit den Katzen, die am Fenster sitzen und die Zürcher Kirchenlandschaft betrachten, von seinem Platz auf einem Zierbalken holt. «Dort haben sie ein Vierteljahrhundert lang gewartet – und jetzt kommen sie zu uns.»  – «Ausgerechnet heute», antwortet Andrea, «an Ostern. Feiern wir die Auferstehung der Liebe.»

Was in diesem Vierteljahrhundert geschehen ist, ist Allgemeingut und rasch zusammengefasst: Katharina heiratet den städtischen Chefbeamten Jean-Pierre Hoby, erfüllt sich mit ihm den Wunsch einer Grossfamilie und zieht mit ihm fünf Kinder auf. Auch Andrea Bianca gründet eine Familie mit zwei Kindern. Beide Ehen werden geschieden; dennoch legen die beiden grossen Wert auf die Pflege des Familienzusammenhalts. Während ihrer Aufgabe als Chilbi- und Zirkus-Seelsorgerin ist «die schönste Pfarrerin der Schweiz» ein Lieblingsthema der Boulevard-Medien – und wechselt nach siebzehn Jahren Glamour und Rummel als Spitalseelsorgerin in die Zürcher Hirslanden-Klinik. Andrea Marco Bianca betreut die Gemeinde Küsnacht und amtet als Vizepräsident des Zürcher Kirchenrats.

Forch, Sonntag, 23. Juli 2023

Zwei Tage nach dem Zeitungsgespräch meldet Katharina Hoby sich noch einmal per Whatsapp: «Das mit den Katzen haben wir unterdessen geklärt: Wir beide verkörpern in unterschiedlichen Situationen beide Katzen!»