Der Professor mit den geheimnisvollen Initialen

Erstellt von Daniel J. Schüz |
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In der letzten Folge unserer Sommer-Serie «Stafetten-Porträt» stellen wir den Küsnachter Professor Daniel Franzen vor, Chefarzt des Spitals in Uster. Der Mundart-Rocker und Karate-Crack hofft, dass seine Frau Moni ihm nie die rote Karte zeigt.

B – E – V: Drei Buchstaben, dekorativ in stilisiertes Vogelgefieder eingebettet, lassen ahnen, was dem Mann, der sich dieses Tattoo auf den linken Oberarm hat stechen lassen, so tief unter die Haut geht, dass die Botschaft ihm zu einem Herzensanliegen geworden ist: «Die Buchstaben», sagt Daniel Franzen, «stehen für unsere Kinder – Ben, Eyleen und Vicky.»

Der Mann mit dem symbolträchtigen Tattoo ist Professor an der Uni Zürich, Chefarzt im Spital Uster, Mundart-Rocker in der Küsnachter Band XotniX, liebevoller Ehemann und cooler Papi von drei Teenagern. Er ist noch keine fünfzig Jahre jung, in der Mitte des Lebens und auf dem Zenit seiner beruflichen Laufbahn angekommen, erfolgreich auf allen Ebenen, glücklich in jeder Beziehung.

Sieht ganz so aus, als habe da einer immer alles richtig gemacht.

Ein warmer Sommerabend im Erlenbacher «Rössli»-Garten, auf dem Tisch eine kleine Schiefertafel: «Reserviert für Dani + Moni». Franzen, schwarzes T-Shirt, kahler Schädel, trendiger Fünftage-Bart, bestellt eine Stange, «alkoholfrei, bitte!» Heute Abend, sagt er – und die Vorfreude ist ihm anzuhören –, werde er seine Frau wieder einmal zum Essen ausführen. «Die Moni kommt erst in einer Stunde; wir haben genug Zeit zum Reden!»

Hat er denn wirklich immer alles richtig gemacht?

Daniel Franzen, der in seinem Freizeit-Look betont locker und alles andere als professoral daherkommt, grinst spitzbübisch und verweist auf die vier Buchstaben auf der Schiefertafel: «Moni! Meine Frau spielt die Hauptrolle – und sie ist auch die Schiedsrichterin; sie hat eine symbolische rote Karte: Sobald ich ihr das Gefühl gebe, dass der Zusammenhalt in der Familie unter meinem Job leidet, zückt sie diese Karte. Dann weiss ich, dass es höchste Zeit ist für die Notbremse – und zwar bis zur letzten Konsequenz: Wenn die Familie zu kurz kommt, schmeiss ich von heute auf morgen alles hin ...»

Und es gibt gar nichts, das er, wenn die Lebensuhr sich zurückdrehen liesse, heute anders machen würde?

Daniel Franzen überlegt nur kurz. «Doch», sagt er dann. «Das gibt es tatsächlich: Rückblickend hätte ich gerne mehr Zeit mit meinem Vater verbracht – mit dem Mann, der mir die Musik nahegebracht hat; auch wenn seine Musik eine ganz andere war als meine.»

Wurzeln in der Musik

Hans Franzen stammt aus der nordrheinwestfälischen Metropole Bielefeld, in der Domstadt Köln absolviert er das Studium des klassischen Gesangs und lernt Liesel kennen, eine Komparsin, die bald schon seine Frau und Daniels Mutter wird. Bald darauf folgt Hans Franzen dem Ruf ans Zürcher Opernhaus; die junge Familie findet in Küsnacht eine neue Heimat.

Da schildert er eine Szene, die sich so oder ähnlich in jeder Familie abspielen könnte – eine Episode, die mit dem Tod des Vaters einen bitteren Beigeschmack bekommen hat und den Sohn fortan nicht mehr loslassen sollte.

Als Teenager findet Daniel Gefallen am Klavier – zum Missfallen des Vaters, der Daniels jazzig-verspielte Improvisationen als «Un-Musik» disqualifiziert. Bis zu jenem Tag, als Hans Franzen sich, überraschend milde gelaunt, neben das Klavier stellt und zu Daniels Sound seinen kräftigen Bass anstimmt. «Lass mich in Ruhe», unterbricht ihn der Sohn schroff.

Seither grämt ihn die Erinnerung an die barsche Zurückweisung des väterlichen Versöhnungsangebots. «Es war pubertäres Trotzgehabe; ich würde viel dafür geben, wenn ich es ungeschehen machen könnte», bekennt er – und fügt nach einer Pause an: «Plötzlich ist es zu spät – das kann man nie wissen.»

Am Abend des 15. September 1993 singt Hans Franzen in der Komischen Oper in Berlin die Titelrolle im «Märchen vom Zaren Saltan» – es ist sein letzter Auftritt. Unverhofft bricht der Sänger bewusstlos auf der Bühne zusammen, wird notfallmässig ins Spital eingeliefert. Am nächsten Morgen versuchen die Ärzte erfolglos, den Patienten aufzuhalten: Er müsse unbedingt noch den Flieger nach Zürich erreichen, insistiert Hans Franzen. Sein Sohn Daniel feiere nämlich morgen den Matura-Abschluss.

Tatsächlich schafft er es noch, den Junior zur bestandenen Matura zu beglückwünschen. Gegen Mittag an jenem 17. September 1993 legt sich Hans Franzen für ein Nickerchen aufs Sofa. Als Daniel nach der Feier nach Hause kommt, ist der Vater eingeschlafen – so tief, dass er nicht mehr aufwacht.

Warum? Was ist geschehen? Offene Fragen, auf die der Sohn bis heute keine Antwort findet: Haben die Ärzte in Berlin wirklich alles getan, um ihren Patienten zu retten? Würde der Vater noch leben, wenn er mit dem Sterben noch ein paar Jahre zugewartet hätte – solange wenigstens, bis ich mein Medizinstudium abgeschlossen hätte?

Mit 57 Jahren hat Hans Franzen einen ebenso rätselhaften wie ambivalenten Tod gefunden. Für den damals 19-jährigen Sohn war es «einerseits ein Schock, der schmerzhafte Narben im Seelengewebe hinterlässt. Er hat mich aber auch gelehrt, auf eigenen Beinen zu stehen, mich durchzubeissen – und niemals locker zu lassen.» Fähigkeiten notabene, die jeden Spitzensportler aufs Siegerpodest hieven.

Daniel Franzen frönt dem Sport in seiner ganzen Vielfalt: Mit dem braunen Karate-Gurt hat er die zweithöchste Auszeichnung der japanischen Kampfkunst errungen. Am Sonntag wird er den Ustermer Triathlon bestreiten. Und jeden Morgen von halb sieben bis sieben pflügt er, Länge um Länge, durchs Ustermer Hallenbad. «Im Sport», sagt er, «finde ich den Ausgleich zu den Herausforderungen im Spital.»

Es sind Herausforderungen, die den Chefarzt auf verschiedenen Ebenen in Anspruch nehmen – vor allem im medizinischen Bereich, aber auch auf der betriebswirtschaftlichen Seite und bei der Personalführung. Immer wieder neu aufflammende Spekulationen um eine politisch verfügte Schliessung unrentabler Regionalspitäler verunsichert viele Mitarbeitende. «Rund hundert Personen sind mir im medizinischen Bereich unterstellt», erläutert Franzen. «Alles hoch qualifizierte Fachleute, die ich bei der Stange halten muss.»

Auf der menschlichen Ebene sieht sich der Facharzt für Pneumologie täglich mit Angst und Leid konfrontiert, die Diagnose Lungenkarzinom ist oft ein Todesurteil – auch wenn Franzen es so niemals formulieren würde. «Wir sprechen allenfalls von ­einer lebensbedrohlichen Situation», sagt er. «Als Arzt muss ich die richtigen Worte finden, offen und schonend. Das kann man lernen, daran muss man sich bis zu einem gewissen Grad auch gewöhnen, zugleich aber darauf achten, dass die Gewöhnung nicht zur Abstumpfung führt. Das Wichtigste bei derlei heiklen Gesprächen ist die Zeit: Man muss sich die Zeit nehmen, die der Patient braucht – auch wenn das dem Bundesrat, der unsere konsultativen Gespräche auf maximal zwanzig Minuten beschränken will, nicht in den Kram passt.»

Liebe an der Küsnachter Chilbi

Beim informativen Gespräch im Garten des Erlenbacher «Rössli» ist die Zeit wie im Flug vergangen; längst ist die vereinbarte Stunde überschritten. Monika Franzen ist pünktlich gekommen, hat am Tisch Platz genommen und eine Cola Zero bestellt: «Redet nur weiter», sagt sie. «Lasst euch nicht stören!»

Sie lächelt ihn so liebevoll an wie einst: Ziemlich genau zwanzig Jahre sind vergangen seit jenem ersten magischen Blickwechsel. Daniel – damals noch Assistenzarzt am Zürcher Uni-Spital – sass mit seinem Bier in einer Bar an der Küsnachter Chilbi, ihm schräg gegenüber diese junge Frau: «Zuerst habe ich nur ihre Augen wahr genommen – und dann hat mich das deutliche Gefühl beschlichen, dass wir einander zuvor schon einmal begegnet sein mussten, dass wir uns schon lange kannten – irgendwie ...»

«Das war noch ein paar Jahre zuvor», präzisiert Monika, «am Pfarreilager: Ich war noch bei den ganz Kleinen – und du hast schon zum Leiterteam gehört.» – «Genau», lacht Daniel. «Und Dominik Dozza war auch schon dabei!»

Schon im Chindsgi waren Dominik und Daniel dicke Freunde – und sie sind es bis heute geblieben. Aus dem gemeinsamen Sandkastenspiel ist im Lauf der Jahrzehnte eine Männerfreundschaft geworden, die ihresgleichen sucht. Und in den dunkelsten Phasen ihrer Biografien fallen Gemeinsamkeiten auf, die die Frage aufwerfen, ob da einfach nur ein merkwürdiger Zufall Regie geführt hat – oder ob es vielleicht doch eine schicksalhafte Fügung war: So unverhofft Daniels Vater Hans Franzen auf der Opernbühne seine letzte Reise angetreten hat, so überraschend ist auch Dominiks Mutter in ihrem geliebten Zürichsee aus dem Leben geschwommen – ein Abschied, den sie lange zuvor schon angekündigt hatte.

Zwei Söhne suchen bis heute die Antwort auf die Frage: «Warum? Warum so unverhofft?»

Letzte Frage an Monika Franzen: «Wie ist das jetzt mit dieser roten Karte?»

«Hat er das auch erzählt», lacht sie. «Ja – die gibt es tatsächlich – symbolisch, in unserer Fantasie. Aber ich habe sie noch nie einsetzen müssen. Und das wird auch so bleiben ...»

«Hoffen wir es», lacht der Professor mit dem grossen Tattoo und den drei Buchstaben auf dem linken Oberarm. Auf der rechten Seite wäre noch Platz für drei weitere Buchstaben: MMM – wie Medizin, Musik – und Moni.