Der Koch als Komponist der Aromen

Erstellt von Isabella Seemann |
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Aus einem Bahnhofbuffet machte er einen Gourmettempel mit 16 Gault-Millau-Punkten – und zeigte den Goldküstenbewohnern,was wirklich grosse italienische Küche ist. Ein Besuch bei Maurizio Vannozzi im Ristorante Sinfonia in Erlenbach.

Die Aussicht geht auf das Bahnhofsgebäude vis-à-vis samt ultramarinblauem Schild mit weisser Aufschrift: Erlenbach ZH. Das Ristorante Sinfonia wartet weder mit Seeblick noch ausgetüfteltem Interieur auf. Maurizio Vannozzi schert sich nicht um Moden und zelebriert auch nicht die grosse Oper. Für seine italienische Haute Cuisine orientiert sich der 67-jährige Römer radikal allein an der Qualität der Grundprodukte. Seinem Restaurant, das er vor 35 Jahren eröffnete, und seiner Küche ist er bis heute kompromisslos treu geblieben. In den Top Ten der besten italienischen Restaurants von Feinschmeckerzeitschriften hat das «Sinfonia» seit Jahrzehnten einen festen Platz. In Anerkennung dieser kontinuierlichen Leistung erhöhte der Restaurantführer Gault Millau letzten Herbst die Note und zeichnete das «beste Bahnhofbuffet» des Landes neu mit 16  Gault-Millau-Punkten aus.

Am Abend unseres Besuchs bleiben wir auf dem Weg zum reservierten Tisch auf der Terrasse vor der offenen Küche stehen, in der jeder Posten in höchster Achtsamkeit, geradezu versunken, mit der Zubereitung der Gerichte beschäftigt ist. Da bleibt keine Zeit für Plauderei. Das kleinste Versäumnis, eine Nachlässigkeit würde die Küche ins Chaos stürzen. Zumal in Vannozzis Küche alles selbst hergestellt wird, alles hundert Prozent Handarbeit ist, kein einziges Fertigprodukt zum Einsatz kommt und die Gerichte à la minute gekocht werden.

Vannozzi ist keiner jener Starköche, die erst zu gesetzter Stunde erscheinen, wenn die Arbeit schon getan ist, um dann mit verschränkten Armen am Pass zu thronen und die Gäste zu verabschieden. Er arbeitet von der ersten Minute an mit, rollt nicht nur den Pastateig aus, sondern filetiert auch mit grösster Sorgfalt den frisch angelieferten Wolfsbarsch, formt engelsgeduldig nach alter Schule mit zwei Löffeln die Malfatti, setzt drei verschiedene Fonds an, einen mit Fisch, einen mit Kalb und einen Rindsfond, und hat dabei in seiner Küche immer alles im Blick, alles unter Kontrolle. Wenn es zu einem Fehler kommt, bügelt er ihn seelenruhig aus. Besprechen kann man das am nächsten Morgen, geschrien und geflucht wird nicht in der Küche.

Jeder weiss, was zu tun ist

Was hier in den nächsten rund vier Stunden geschieht, ist das Zusammenspiel ­eines kulinarischen Ensembles, bei dem in perfektem Takt gekocht und rund einhundert Teller mit grösster Präzision angerichtet werden, unter höchster Konzentration, «doch ohne Stress», wird Maurizio Vannozzi später erklären. «Denn unter negativen Emotionen geht vieles daneben und die Liebe flöten.» Der Chef muss kaum Kommandos geben, weil jeder weiss, was zu tun ist, weil jeder Handgriff sitzt, kein unnützer Weg gegangen wird. Wir schauen diesem Treiben von Minute zu Minute immer gebannter zu und stellen uns vor, in einer Welt zu leben, die wie diese Küche funktioniert: Alle sind mit Leidenschaft bei der Sache, niemand steht sich selbst oder anderen im Weg, jeder hilft jedem, und Vannozzis Credo, «den Menschen etwas zu geben, das ihnen Freude macht», wäre ein allgemeingültiges. Eine schöne Utopie.

Der Duft von frischen Kräutern und gebratenem Knoblauch lässt uns das Wasser im Munde zusammenlaufen. Wir nehmen unseren Platz in erwartungsvoller Vorfreude ein wie vor einem Konzert.

Es beginnt ganz leise mit einem Aromen-Pianissimo, das sofort höchste Aufmerksamkeit verlangt und erzeugt, weil die Geschmäcker der Vorspeisen – Carpaccio di manzo, lauwarme Artischocken, Vitello tonnato und Siedfleischsalat, hier vornehmer «Insalata di bollito su insalatina» genannt, so fein austariert, so harmonisch arrangiert sind, dass man sich nicht die winzigste Nuance entgehen lassen will. Dann wird es ein bisschen lauter: ein Teller erstklassiger Fische und Meeresfrüchte mit dünn geschnittenem Pulpo, Schwertfisch, rohem Thunfisch und in Zucchetti eingewickelte Scampi kommt so frisch auf den Tisch, dass wir uns beim ersten Bissen an der Amalfiküste wähnen, wo Fischer gerade ihren Fang an Land bringen.

Die Fanfare setzt ein für Vannozzis Pasta. Die cremige Textur der Malfatti, grosse Gnocchi aus Ricotta und Spinat, umhüllt den Gaumen wie eine sanfte Melodie, der Kalbsfond zu den hausgemachten Ravioli mit Kalbfleischfüllung hat eine umami-reiche Note, die gleichzeitig subtil und elegant ist. Und die Ta­glierini bringen eine weiche, seidige Textur mit sich, die warmes und wohliges Empfinden hinterlässt – wie ein verhallendes Crescendo.

Bei einem Restaurant namens Sinfonia sind die Parallelen zwischen Kulinarik und Musik unausweichlich. Doch Maurizio Vannozzi hat die Urbedeutung des Worts nicht nur in seinen kulinarischen Kompositionen umgesetzt, sondern als zentrale Lebensphilosophie verinnerlicht. «Symphonie» stammt aus dem Griechischen und bedeutet wörtlich «Zusammenklang» oder «Harmonie». «Ich strebe in jeder Facette vollkommene Harmonie an, auch in meinen Beziehungen zu den Gästen, Lieferanten und Mitarbeitern», sagt er. «Denn das Gelingen hängt vom Zusammenspiel aller Beteiligten ab.»

Der Traum vom eigenen Lokal

Bereits als kleiner Bub sah er seiner Mutter auf dem Bauernhof in Leonessa, ­einem kleinen Städtchen nordöstlich von Rom, am Fusse des Apennin, beim Kochen zu. «Wie eine Tomatensauce aus reifen Tomaten schmecken muss, hat sich mir schon als Kind in Hirn und Gaumen eingebrannt.»

Mit 21 Jahren zog es ihn als ausgebildeter Koch nach Zürich, wo er bei den damals besten «Italienern» der Stadt am Herd stand: im «Piccoli Accademia», im «Ciro» und im «Orsini». 1989 machte er seinen Traum vom eigenen Lokal wahr und eröffnete ein «Sinfonia» in Lachen und parallel das «Sinfonia» in Erlenbach. Nach drei Jahren setzte er ganz auf Erlenbach und konnte das Haus mitsamt Wohnung im oberen Stock und dem grossen Garten mit den Obstbäumen übernehmen.

Aller Anfang ist schwer. «Die Schweizer hatten wenig Ahnung davon, was die authentische italienische Küche ausmacht. Al dente war ihnen zu hart und die Sossen wollten sie mit Rahm.» Der ruhige Römer verliert ein wenig die Contenance: «Rahm und Butter kommen in der italienischen Küche nur ins Dessert.» Tempi passati. Mit kühner Beharrlichkeit hat er das Sinfonia zu einem der besten Adressen für italienische Küche gemacht – «mein Ziel ist, jeden Tag besser zu sein als am Vortag» – und sich eine treue Stammkundschaft aufgebaut, unter der sich viele berühmte Namen finden. Diese zu nennen, verbietet ihm seine Bescheidenheit und Diskretion. Aber man weiss ja, wer so alles an der Goldküste wohnt.

Auch wenn manche Gourmets für einen Teller von Vannozzis Pasta meilenweit reisen, so wäre es schade, ihn darauf zu reduzieren. Aus Mazara del Vallo im westlichen Sizilien lässt er Riesencrevetten liefern, die er nur kurz in der heissen Pfanne anbrät und dann auf roten, nussig schmeckenden Reis legt. Ein Gericht, das heiter stimmt wie ein Scherzo.

Der stundenlang in Barolo geschmorte Brasato di manzo mit seiner reichhaltigen, vielschichtigen und samtigen Sauce ist schliesslich ein aromensattes Forte. Spitzenküche ohne Pirouetten. «Charakter ist wichtiger als Chichi», lautet das Motto. Ein cremig elegantes Panna Cotta mit Brombeeren aus dem Garten und ein luftig-leichtes Semifreddo bringen das Essen zu einem harmonischen Finale und lassen uns noch eine Weile andächtig und besinnlich zurück, wie der ausklingende letzte Satz einer Ode an die Freude.