Der gute Mensch vom Goldbach

Erstellt von Daniel J. Schüz |
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Der Küsnachter Multiunternehmer Emil A. Schaerer lebt christliche Nächstenliebe nach dem Motto: Sei erfolgreich und lass andere daran teilhaben.

Zürich vor acht Jahrzehnten: Am 3. Februar 1943 feiert Emil Albert Schaerer an der Mimosenstrasse 9 im Kreis 11 seinen achten Geburtstag. Am Abend danach feiert das Publikum im Schauspielhaus gewissermassen eine theatralisch inszenierte Geburt: Mit der Uraufführung von Bertold Brechts Polit-Parabel «Der gute Mensch von Sezuan» kommt ein episches Drama auf die legendäre Pfauenbühne – und in die Welt.

In der örtlichen und zeitlichen Koinzidenz zwischen der kulturhistorischen Sternstunde auf der Bühne und dem Kindergeburtstag in Oerlikon könnte man die Laune eines banalen Zufalls erkennen. Oder aber – aus heutiger Sicht – einen augenzwinkernden Wink aus der Zukunft: Sollte sich der Spross einer Zürcher Grossfamilie als jener «gute Mensch» erweisen, den die Götter in der chinesischen Provinz zu finden gehofft hatten?

Emil Schaerer wuchs mit zwei älteren Schwestern und vier jüngeren Brüdern in Zürich-Oerlikon auf. «Es war eine schwierige Zeit», erinnert sich der Küsnachter an die entbehrungsreichen Kriegsjahre. Jenseits der Grenzen stand Europa in Flammen. Die Männer waren ausgerückt, das Land zu verteidigen, während ihre Frauen zu Hause ums wirtschaftliche Überleben kämpften. Und die Kinder gingen, wo immer sie konnten, der Mutter zur Hand. «Wir mussten uns einschränken, aber wir waren nicht allein – und andere litten noch viel mehr Not.»

Jeden Tag kochte die Mutter in einem grossen Topf Gemüsesuppe. Sie schöpfte die Suppe ins «Milchchesseli», gab frischen Salat dazu und schickte ihren Ältesten mit der warmen Mahlzeit zu kranken und bedürftigen Nachbarn. Auf seinem Weg kam der Primarschüler auch beim Schuhmacher vorbei – und heckte spontan seinen ersten Businessplan aus: Gegen Vorkasse holte Emil bei den Kunden die abgelaufenen Schuhe ab, brachte sie neu besohlt wieder zurück – und durfte mit jedem Botengang zehn Rappen fürs Sparsäuli behalten.

Es war der Auftakt zu einer ebenso vielfältigen wie schillernden Unternehmerkarriere. Emil war ein herziger Blondschopf, noch keine zehn Jahre alt, als er sich einen modischen Pullover überstreifte und sich für das Strickheft der «Schaffhauser Wolle» ablichten liess. «Sechzehn Jahre nach meinem Einstand als Kindermodel bezog ich mein Büro in der Chefetage des Modekonzerns – als Marketing-, Werbe- und Verkaufsleiter», sagt er mit kaum verhohlenem Stolz – und fügt lächelnd an: «Dazwischen habe ich auf dem Bau geschuftet, eine KV-Lehre absolviert und meine erste Studienreise in die USA angetreten – auf der legendären ‹Queen Mary› über den Atlantik nach New York.»

Unter den Villen an der Zürichstrasse ist die Nummer 31 mit Abstand die mondänste. Der sattgrüne Rasen stellt jeden britischen Golf-Lawn in den Schatten, zwei tonnenschwere Steinskulpturen des Künstlers Beat Bösiger säumen den Weg zum Anwesen, eine Harfe aus weissem Marmor ziert den Eingang, als die Haustür sich lautlos, wie von Geisterhand, öffnet.

Emil Schaerer empfängt den fremden Besucher wie einen alten Freund. Die Frisur sorgfältig gescheitelt, das Lächeln breit und freundlich – ein Gentleman alter Schule. 87 Lebensjahre haben weder im Gesicht noch in der Haltung nennenswerte Spuren hinterlassen. Wie macht er das?

«Es ist ganz einfach», sagt er. «Ich habe schlicht keine Zeit und noch weniger Lust, alt zu werden. Ich bin noch immer mit meinen Geschäften beschäftigt – und beseelt von meiner Mission.»

Das Geschäft ist offenkundig tief in seiner DNA verankert; davon legt ein Sammelsurium von Dokumenten ein beredtes Zeugnis ab: Zeitungsberichte, vornehmlich aus der Regenbogenpresse, und Inseratekopien, akkurat auf dem grossen Besprechungstisch assortiert. Die Schaerer Company (Schaco) lanciert «Bodywell», ein Versandhaus, das mit alternativen Naturprodukten die Volksgesundheit fördern und dem Monopol der Pharmabranche den Garaus machen will.

Es werden nachhaltige Fensterputzmittel und augenschonende Rasterbrillen vermarktet, biologisches Waschpulver und magnetisiertes Wasser, Ohrclips zur Nikotinentwöhnung und umweltschonende Miniaturfriteusen, die zu Hunderttausenden in China produziert werden; gesundheitsfördernde Lebensmittel wie Kefir, die gefriergetrocknete Yoghurt-Alternative, gehören ebenso ins Schaco-Sortiment wie das fermentierte Teegetränk Kombucha, das Krebserkrankungen vorbeugen soll – und alsbald unter dem Label «Carpe Diem» vom Red Bull-Konzern kopiert werden sollte.

Das alles und noch viel mehr, beteuert Emil Schaerer, hätte er patentieren lassen und so zweifellos noch viel mehr Geld verdienen können. Aber darum sei es ihm letztlich gar nicht gegangen: «Ich wollte meine Produkte nicht vergolden, sondern einfach möglichst breit unter die Leute bringen.» 

So viel zum Geschäft. Und wie ist das mit der Mission, die ihn beseelt?

Nein, lacht Emil Schaerer, missionarisch wolle er keineswegs wirken; obwohl seine Eltern im Dunstkreis der evangelikalen Wiedertäufer-Freikirche einem streng religiösen Glaubensregime anhingen, habe er selbst glücklicherweise zurückgefunden in den Schoss der reformierten Kirche – «dank unserem Pfarrer, meinem Freund Andrea Marco Bianca, der einen ähnlichen Weg gegangen ist».

Vielmehr geht es ihm um Küsnacht als Kraftort – um das Dorf im Allgemeinen und um die Kirche im Besonderen. «Es kommt ja nicht von ungefähr, dass namhafte Persönlichkeiten wie Tina Turner oder der Autoimporteur Emil Frey nach Küsnacht gekommen sind», mutmasst Schaerer. Und er weiss: «Seit Ursula und ich nach der Hochzeit vor bald sechzig Jahren hierhergezogen sind und uns selbstständig gemacht haben, nahmen auch wir die besondere Energie dieses Ortes wahr.»

Er wollte es ganz genau wissen und gab bei drei Radiästheten eine Untersuchung in Auftrag. Resultat: 20 000 Bovis-Einheiten. «Unsere Kirche hat als Kraftort mehr Energie als die Kathedrale von Chartres», jubelt Schaerer. «Und zwar genau dort, wo es drauf ankommt – beim Taufstein.»

Die andere Mission führt aufs diplomatische Parkett: Seit Schaerer 1987 von Panama, bald darauf auch von Ruanda zum Generalhonorarkonsul befördert wurde, war er oft in Afrika und Südamerika unterwegs, um wirtschaftliche Beziehungen zu fördern und soziale Not zu lindern. «Leider ist es mir nicht gelungen, die Menschen davon zu überzeugen, dass sie die Umstände im eigenen Land verbessern und die lebensgefährliche Reise übers Meer nach Europa vermeiden müssen.»

Da ist aber noch eine dritte Mission. Sie heisst einfach Liebe und kommt dreifach zum Ausdruck:

«Ich liebe meine Frau», sagt der treusorgende Ehemann. «Ich liebe sie so, wie sie heute ist. Und ich habe ihr einen neuen Balkon bauen lassen, damit sie bei jedem Wetter an die frische Luft kommt.» Ursula Schaerer lebt, seit das Alter ihr Kurzzeitgedächtnis gelöscht hat, in ihrer eigenen kleinen Welt – im Obergeschoss, wo sie rund um die Uhr von einer Pflegefachfrau betreut wird. Und von ihrem Mann, der sie in unruhigen Nächten auch dorthin begleitet, wo andere Menschen alleine sein wollen.

«Ich liebe mein Land», sagt der glühende Patriot. Das bezeugt das Dienstbüchlein, das dem damals jüngsten Adjutanten der Schweizer Armee über tausend Diensttage attestiert; aber auch eine riesige Schweizer Fahne, die vor dem Haus im Wind flattert. Und vor allem der Bundesbrief, den Schaerer in der Originalversion hundertfach hat kopieren lassen. Selbst die Freundschaft mit dem Star-pianisten und Exil-Ukrainer Alexey Botvinov ändert nicht seine Überzeugung, «dass wir die immerwährende bewaffnete Neutralität wahren müssen».

«Und ich liebe die Menschen», sagt der bekennende Philanthrop. Liebe wird erkennbar, wenn er getreu dem alten Pfadfinder-Motto «jeden Tag eine gute Tat» vollbringt. Oder sich ans Prinzip «Geben ist seliger denn nehmen» hält; «denn nur wer seine Hand öffnet, gibt dem Herrgott die Möglichkeit, etwas hineinzulegen».

Das gilt auch für die grossen Jubiläen, die Emil Schaerer gerne möglichst grosszügig und in barocker Opulenz in Szene setzt. Vor acht Jahren, als sein 80. Geburtstag sowie 50 Jahre Verlobung mit Ursula und 50 Jahre Firmengründung anstanden, charterte er kurzerhand die «Sonnen-Königin», das grösste und modernste Schiff der Bodenseeflotte. 350 geladene Gäste – neben Geschäfts- und anderen Freunden auch viel Show-Prominenz rund um Pepe Lienhard – fanden sich zur Kreuzfahrt auf dem Schwäbischen Meer ein. Kostenpunkt: Schaerers Geheimnis. Spendenertrag: Über 40 000 Franken zugunsten des Vereins Lebensfreude, der humor- und respektvolle Clown-Besuche für demenzkranke Menschen ermöglicht  – und damit ein bisschen Fröhlichkeit in die Einsamkeit bringt.

Letzte Frage: Wie will Schaerer in gut zwei Jahren den nächsten runden, den 90. Geburtstag feiern? «Dieses Fest lassen wir einfach aus und warten noch einmal zehn Jahre. Dann stechen wir mit der ‹Queen Mary› in See!» Das sibyllinische Lächeln lässt die Antwort auf die Frage offen, ob das nur ein Scherz ist ...

Bertold Brechts Götter, die sich auf der Suche nach einem wahrhaft guten Menschen in die chinesische Provinz Sezuan verirrt haben, wären besser über dem Zürichsee vom Himmel herabgestiegen. Möglicherweise hätten sie dann den guten Menschen vom Goldbach gefunden.